"Denkst Du nicht, dass das Leben ein Traum ist?", fragt Fernanda, eine geheimnisvolle, zwischen verschiedenen Identitäten und Welten oszillierende Alte in der Erzählung "Die Postkarte" - einer der schönsten und stillsten der elf Geschichten - in Dante Andrea Franzettis Erzählband Curriculum eines Grabräubers . Eine Frage, welche die verneinende Antwort des Ich-Erzählers impliziert, der aber trotzdem ahnt, nein weiß, dass Fernandas Probleme etwas mit seinen eigenen zu tun haben. Homer B., der titelgebende Grabräuber, dagegen sagt: "La vita è fregatura", das Leben ist Schein und Trug. In einer Bombennacht im September 1943 mit einer Schrumpfhand geboren, wird es von ihm im Dorf rasch heißen, er bringe Unglück, sei einer, der den bösen Blick habe. Später wird er etruskische Gräber plündern und ein Vermögen machen, dann den Behörden helfen, noch unversehrte Nekropolen vor seinesgleichen zu schützen, um am Schluss Imitate herzustellen, die er Museen als echt verkauft. Er geht dafür ins Gefängnis - und wird ein Unverstandener bleiben. "Sie haben sein Kunstwerk nicht verstanden, weil sein Leben sein Kunstwerk war."

Wie Fernanda versucht auch der Grabräuber einen Traum zu leben und ein Leben zu träumen. Das war schon zu Zeiten Don Quichotes démodé, also lange bevor der postmoderne Erfolgsmensch als Leitbild das Rennen machte. Gerade weil sie der Schwerkraft der Verhältnisse trotzen, gehören Fernanda und Homer zu jenen Figuren, die man in der Literatur so mag.

Alle Erzählungen des 41-jährigen, in Orvieto und Zürich lebenden Autors sind in den Grenzregionen zwischen Träumen und Wachen, Oberfläche und Untergrund, Fiktion und Realität angesiedelt. Ob Franzetti für die Erzählungen die Ich- Form wählt, was er mehrheitlich tut, oder einen kühl beobachteten Berichterstatter einführt, nie ist der Leser sicher, ob er ihm nun Tatsachen oder Fiktionen auftischt. Oft baut er historische Ereignisse und Daten ein, die er mit den fiktiven Biografien seiner Figuren ergänzt. Er nutzt dadurch äußerst geschickt die entstehende Dialektik von Unwirklichkeit und Erdnähe, um in seinen Geschichten Geschichte vorkommen zu lassen. DDR-Geheimdienstchef Wolf taucht auf ("Wallenstein"), Buchenwald ("Die Äpfel"), der Duce auch ("Ariologium de muriccio").

Die Identitäten der Figuren sind, wie gesagt, unsicher, verschwimmend und vielfach gespiegelt. Oft ist die Handlung in der Kälte des Winters angesiedelt, und das Individuum wird als einsam, verstummt und von Naturkatastrophen heimgesucht dargestellt. Das haltlose Schweben der Figuren hat etwas Morbides und Vergebliches. Ganz selten - etwa in der letzten und längsten Erzählung des Bandes - übertreibt Franzetti allerdings seine Neigung zum parabelhaften Erzählen und zum hohen Ton. Der größte Teil des Curriculums besticht aber durch eine Ökonomie der eingesetzten Mittel, wie man sie nicht oft findet. Es handelt sich bei diesen Erzählungen um wunderbare Kammerspiele von wenigen Motiven, Klängen und Worten, die sich in kunstvoller Manier immer um dieselbe Achse drehen: den Tod, das Vergehen der Zeit, die Identität.

In den besten Momenten des Buches werden Konflikte und Spannungen mit lockerer Hand in Umrissen skizziert, wobei sie sich durch die zum Stilprinzip gemachte Beiläufigkeit fast zu verflüchtigen scheinen. So auch in der Erzählung "Aus der Selbstmordstatistik", in der eine Frau eine Liste derjenigen führt, die vom Felsen, auf dem die Stadt erbaut ist, in den Tod springen. Einer aber überlebt den Sprung und wird zu einer Runde von hohen Herren gerufen, die ihm Geld geben, damit er sage, was man im Augenblick des Sprungs fühle. Andere hätten wohl einen Roman über die Hintergründe des Selbstmords, eine verkorkste Lebensgeschichte und so fort geschrieben. Franzettis Cippo, so heißt der Mann, hingegen "war erleichtert. Er hatte eine weit schwierigere Frage erwartet. Mit einem verzerrten Grinsen antwortete er: - ,Was ich gespürt habe? Eine Menge Luft in den Hosen, meine Herren. Sehr viel Luft, bis ich unten war.'" (Stefan Gmünder)