suhrkamp
Martin Walser ist immer für Überraschungen gut. Nach dem abgeschmackten Familienroman Ohne einander kam die Kohlhaas-Geschichte Finks Krieg; auf das handfeste Beamtenepos folgte die wunderbare Kindheits-Autobiographie Ein springender Brunnen. Jetzt hat Walser einen veritablen Frauenroman geschrieben. Titel und Schutzumschlag drängen dem Leser und erst recht der Leserin den Hinweis auf die Gattung geradezu auf: ein Frauenantlitz (dreifach), ein Männerantlitz (vierfach), in plakativer Illustriertenästhetik, roter Mund auf hellblauem Grund. Der Reklameschuss könnte auch nach hinten losgehen: Wer nimmt schon ein Buch ernst, das Der Lebenslauf der Liebe heißt? Die bösen Ahnungen scheinen sich zu bestätigen, als bereits auf Seite 14 zum ersten Mal von Burgunder die Rede ist: In diesem edlen Rebensaft hatte Walser seine Hochglanzfiguren in Ohne einander erbarmungslos ersäuft. Lernt man jedoch die neue Heldin etwas näher kennen, merkt man einerseits, dass die Herrschaft des Banalen hier Programm ist und kein Betriebsunfall. Andererseits ist diese Frau keineswegs einfach gestrickt, und ihr Wein- bzw. Martini-Konsum illustriert nur eine Facette ihres reichhaltigen Seelenlebens. Ein Frauenroman also. Es ist, als wäre die Protagonistin eines Romans von Marlen Haushofer aus den Tiefen der fünfziger Jahre heraufgestiegen: Die Frau eines erfolgreichen Anwalts reagiert auf dessen erotisches Freibeutertum mit emotionalem Rückzug, Verweigerung und mühsam gezähmter Aggression. Sie hält sich zwar ihrerseits an einer über Kontaktannoncen erschlossenen Männerwelt schadlos, harrt aber auf ihrem Eheposten aus, auf ein Wunder hoffend und es doch nicht erwartend. Sie arbeitet sich an Alltäglichem ab und duldet bis zur Selbstverleugnung - der Geliebten ihres Mannes schenkt sie ihre Kleider. Von der Haushofer-Figur unterscheiden sie vor allem zwei Dinge: Sie ist reich, wirklich reich, ihre Haushaltsführung gleicht dem Kommando eines Luxusschiffes. Und Intelligenz gehört nicht zu ihren hervorstechendsten Eigenschaften. "Man macht sich passend" Es sagt nichts über die Qualität des Romans aus, wenn man mutmaßt, dass seine Protagonistin einem Reich-Ranicki zu dumm wäre. Ihr Schöpfer serviert diese Dummheit denn auch ständig auf dem Silbertablett und belegt sie mit eigenartigen Beispielen: dass Susi Gern ständig ihren Mann Edmund fragen müsse, ob da nun ein Strichpunkt oder ein Komma richtig sei. Wer weiß das schon? Und gibt es darauf überhaupt immer eine eindeutige Antwort? Es handelt sich bei Susi offenbar eher um Unbildung als um Dummheit; (Strichpunkt?) eine Intellektuelle ist sie nicht. Zu Edmund, dem Büchermenschen, blickt sie folglich auf. "Man paßt eigentlich nicht zueinander. Man macht sich passend." Also versucht Susi ab und zu eines von Edmunds Büchern zu lesen, nicht von Anfang an, versteht sich: "Bücher fingen immer so an, wie nur Bücher anfingen. Anstatt daß da gleich stünde, um was es ging, sollte man zuerst mal ein Anfangsritual mitmachen. Mit Männern, ja. Aber nicht mit Büchern." Und wie fängt dieses Buch an? Mit Susis Zeigefinger und zwei Katzenzungen, die nach dem Frühstück Topfen naschen dürfen: "Susi Gern genoß es, gerecht sein zu dürfen." Bald ist man geneigt, ihre Selbsteinschätzung zu teilen: vielleicht nicht intelligent im gängigen Sinn, aber lebensklug ist diese frustrierte Gattin. Die Lebensklugheit braucht sie spätestens, als es im zweiten Teil mit ihrem sexbesessenen Edmund in jeder Hinsicht bergab geht, Börsenspekulation, Parkinson, Impotenz, Inkontinenz, Bankrott, Schlaganfall, Tod. Vom Penthouse in die Miniwohnung: Die Heldin, einstmals konsumverrückt und von Edmund angenehm bevormundet, muss im dritten Teil zusehen, wie sie mit ihr er behinderten Tochter Conny über die Runden kommt. Das gelingt ihr nicht nur, was immerhin auf soziale Intelligenz hindeutet, sie lernt sogar mit 67 einen 30jährigen Marokkaner kennen, der eigentlich mit ihrer Tochter verabredet war. Die prekäre Liebesgeschichte endet mit Heirat, die Ehe, "das reine Unglücksglück", scheint ihr Ablaufdatum schon eingeschrieben zu haben. Man könnte meinen, das alles sei ein bisschen viel für ein Buch. Dabei ist da ja noch viel mehr: Details en masse, Alltagsverästelungen bis ins Mikroskopische. Martin Walser taucht ganz und gar in die Welt seiner Heldin ein. Wir gehen mit ihr Schuhe einkaufen. Wir kämpfen mit ihr gegen die allgegenwärtigen Urinspuren des kranken Edmund. Wir machen uns Sorgen um ihr Gewicht. Wir sprechen mit ihr im Sozialamt vor. Ein geschwätziger Roman, gewiss, doch zugleich ist die mäandernde Rede der Protagonistin auf den Leib geschrieben, bezieht diese ihren literarischen Lebenssaft aus der Suada. So hyperrealistisch die Geschichte sich gibt, so kunstvoll blättert sich der Kosmos in Susi Gerns ureigener Sprache auf, die freilich Martin Walsers Hang zur Satz-Verkürzung und zum mündlichen Duktus entgegenkommt. Walsers Empathie ist allumfassend und unerbittlich. Er weiß alles über Susi, über ihre erotischen Praktiken und Phantasien, ihre Vorliebe für dunkelhäutige Typen, über ihre existentiellen Ängste. Susi neigt nicht zu Selbstmitleid, sie ist ein Sonntagskind mit einer wilden Entschlossenheit zum Glücklichsein. Sie liebt nicht ewig, aber stets unbedingt. "Ihre Sehnsucht: einem Mann so zustimmen zu können, daß nur noch dieser Mann übrig blieb." Ihre Wünsche schwanken zwischen Selbst-Vergessenheit und Selbstbestätigung: "Erst durch die Zuschauer begreift man sich." Ihre Bulimie nennt sie das "kleine Kotzen" und macht weiter nicht viel Aufhebens davon. Dem Zusammenhang zwischen Ordnungsliebe und Depression ist die Walsersche Charakterkunde hier dicht auf den Fersen. Ehrenrettung der Durchschnittsfrau Über weite Strecken gelingt Walser die Ehrenrettung der Durchschnittsfrau im "Zwangsverband Familie". Sein Blick auf diese Frau, die mit ihrem Porsche begraben werden will, ist humorvoll, aber nicht denunziatorisch. Ein Glanzstück, wie er den Niedergang des sympathischen Schwerenöters Edmund und die karge Trotz-allem-Liebe der Eheleute schildert. Das gerät nicht kitschig, sondern schlicht rührend. Ebenso überzeugend ist die Figur der Conny, deren verschroben-verschobene Intelligenz sich vor allem in sprachlicher Mimesis artikuliert: Zahlen sagen ihr nichts, doch ihr Plattdeutsch ist brillant. Walser treibt es in seinem Einfühlungsdrang freilich zu weit. Er leuchtet nicht nur sämtliche Liebhaber romanmäßig aus, er widmet sich auch noch ausführlichst der Lebensgeschichte der Bedienerin (nur einer Gott sei Dank, Frau Gern hat drei). Auch der potenteste Autor muss sich einmal die Erfüllung versagen können. Der Roman bleibt der herkömmlichen Rechtschreibung treu. Nur ein Wort neumodisch geschrieben: überschwänglich. Dass das ein Schlüsselwort ist, gereicht einem 74Jährigen nicht zur Schande. [] (DER STANDARD; Album 4/5 August 2001)