Sport
John Whitaker – er ist wieder da!
Als John Whitaker im Dezember 2000 nach einer Gehirnblutung
zusammenbrach, schien die Karriere des britischen Starreiters
frühzeitig beendet. Doch ,Big John‘ gab nicht auf – und schaffte
eines der eindrucksvollsten Comebacks der Reitsport-Geschichte.
Eine ganze Branche war geschockt, als man die Nachricht vom Zusammenbruch John
Whitakers während eines Springturniers in Stockholm hörte. Das war Anfang
Dezember 2000, und wie sich herausstellte, war eine Gehirnblutung die Ursache für
den Kollaps des britischen Topreiters gewesen. Zwei Operationen waren notwendig,
um sein Leben zu retten, die Rehabilitation – Johns bis dahin schwierigste Prüfung –
dauerte Monate. Doch er meisterte auch diese mit Bravour: Beim internationalen CSI-B
Springturnier im französischen Fontainebleau (14.–16. April 2001) gelang ihm ein
tolles Comback, er siegte in einer schweren Prüfung und wurde in einem weiteren
S-Springen Zweiter. Noch grandioser war seine Leistung ein Monat später beim
schwersten Springen der Welt, dem Deutschen Springderby in Hamburg (24.–27. Mai
2001): Um ein Haar hätte er die Sensation geschafft und Franke Sloohtaak den Sieg
entrissen – doch ein Fehler am letzten Hindernis verhinderte den Triumph. Eine
Sternstunde der Reiterei blieb dieser Moment dennoch: John war wieder da, und wie!
Pferdemann par exellence
Wenn in der Pferdeszene die Frage nach 'dem' Pferdemann gestellt wird, dann wird
allen voran der Name von John Whitaker genannt. Fast unglaublich ist seine Fähigkeit,
sich auf ein neues Pferd einzustellen. Nur eines von vielen Beispielen ist dabei der
braune Holsteiner Hengst Calvaro F.C., nicht zu verwechseln, mit dem Holsteiner
Schimmelwallach Calvaro V von Willi Melliger. Erst Anfang Juni 2000 hatte John den
als schwierig geltenden Holsteiner Hengst von seinem Bruder Michael übernommen
und schon wenige Tage später wurde mit ihm er Achter im Großen Preis von
Hamburg. Die Erfolgsserie setzte sich im Aachener Nationen-Preis mit einer
Doppel-Nullrunde und dem Sieg des britischen Teams fort und fand seinen
vorläufigen Höhepunkt mit dem Sieg des Paares im Großen Preis von Hickstead
2000.
Neben seiner Fähigkeit, mit den unterschiedlichsten Pferden in den schwierigsten
Parcours und Großen Preisen nach nur mehrtägiger Gewöhnungszeit zu vorderen
Plazierungen zu reiten, zählen zu den Qualitäten John Whitakers, daß er viele seiner
Pferde bis ins hohe Alter topfit im Spitzensport einsetzen kann. Virtual Village Welham,
mit dem John Whitaker in der Hallensaison 1999/2000 drei Worldcup-Springen
gewann, ist bereits 21 – und immer noch für eine absolute Weltklasseleistung gut, wie
sein sechster Platz beim Hamburger Springderby im Mai 2001 eindrucksvoll bewiesen
hat. Ein weiteres Spitzenpferd der letzten Jahre, der mittlerweile 22 Jahre alte
Hannoveraner Grannusch, hatte er erst 1999 vom Sport verabschiedet. Auch gelingt es
dem 45jährigen zum einen immer wieder, neue Spitzenpferde zu entdecken, zum
anderen aber auch ohne ein Ausnahmepferd wie Milton oder Ryan's Son in der
Weltspitze beständig mitzureiten und dies seit 25 Jahren.
Unvergeßliche Triumphe
Der älteste von vier Söhnen eines Farmers aus dem britischen Yorkshire hat seinen
ersten nationalen Titel 1976 mit Ryan's Son gewonnen. 1979 wurde er mit dem
braunen, irischen Halbblüter Fünfter im allerersten Worldcup-Finale. Der Auftakt zu
einer großartigen Erfolgsstory. Bis 1984, als John Whitaker mit dem damals
16jährigen Wallach bei den Olympischen Spielen in Los Angeles Mannschafts-Silber
gewann, war Ryan's Son sein erstes Pferd im Stall. Zu den größten Erfolgen des
Paares zählten bereits zuvor die Mannschafts-Silbermedaille bei den Olympischen
Ersatz-Spielen 1980 und Mannschafts-Bronze bei der WM '82 und Mannschafts- und
Einzelsilber bei der EM '83. Bei der EM '81 verpaßten John und Ryan's Son mit Platz
vier in der Mannschaft knapp eine Medaille. Mit dem rheinischen Wallach Hopscotch
gewann der Brite bei der EM '85 Mannschafts-Gold und Einzel-Bronze und bei der WM'
86 Mannschafts-Silber.
Hopscotch erwies seinem Reiter zwar noch viele treue Dienste und war 1993 18jährig
noch Zweiter im Großen Preis von Hickstead, die Nummer eins im Johns Stall wurde
jedoch ein anderer: Die legendäre Milton-Ära begann. Der erste gemeinsame Auftritt
unter Championatsbedingungen endete im Frühjahr '87 mit einem fünften Platz im
Worldcup-Finale. Noch im selben Jahr folgten mit dem unvergeßlichen
Schimmelwallach, der sich ins Herz aller Pferdesportfans weltweit sprang,
EM-Mannschafts-Gold und Einzel-Silber. Ihren großen Auftritt durften John Whitaker
und Milton jedoch 1988 in Seoul nicht erleben. Das Ehepaar Bradley, die Besitzer
Miltons, fürchteten um die Gesundheit ihres Pferdes, das sie stark mit ihrer
verstorbenen Tochter Caroline Bradley, der Entdeckerin und früheren Reiterin Miltons,
verband. So bekamen die größten Favoriten ihre Olympische Chance nicht, dafür
sicherten sich John Whitaker und Milton Platz zwei im Worldcup-Finale von 1989 und
im selben Jahr sowohl den Einzel- als auch den Mannschafts-Titel bei den
Europameisterschaften in Rotterdam. Ein Jahr später bei den ersten Weltreiterspielen
in Stockholm wurde das Paar Vize-Weltmeister in der Einzelwertung und Dritter mit der
britischen Mannschaft. Zwei weitere Höhepunkte in ihrer gemeinsamen Karriere
waren die Siege in den Worldcup-Finalen 1990 und 1991. Bei der EM '91 wurde das
Paar Zweiter mit dem britischen Team und Fünfter in der Einzelwertung. 1992 verletzte
sich Milton kurz vor dem Abflug zum Worldcup-Finale nach Del Mar in die USA und
konnte seinen Worldcup-Titel nicht verteidigen. Bis zu den Olympischen Spielen war
Milton zwar wieder fit, aber noch nicht ganz in Topform. Nach einem Stolperer in der
dreifachen Kombination wurde er nur 14. im Olympischen Einzelfinale. Ein Jahr später
wäre John Whitaker und Milton um ein Haar der Sieg im Worldcup-Finale '93 in
Göteborg erneut gelungen. Doch dann unterliefen dem in Führung liegenden Paar
zwei Abwürfe im zweiten Umlauf der dritten Wertungsprüfung und es mußte sich mit
Platz zwei hinter Olympiasieger Ludger Beerbaum mit Classic Touch begnügen. Für
den mittlerweile verstorbenen Milton war das Worldcup-Finale '93, abgesehen von
vorderen Plazierungen in Worldcup-Springen im Frühjahr '94 und einer umjubelten
Abschiedstournee, der letzte ganz große Auftritt. Nach anhaltenden Problemen mit den
Bronchien entschloß sich John Whitaker seinen beliebten Schimmel 1994 17jährig
vom Sport zu verabschieden, aber Milton sollte noch viele schöne Jahre auf Johns
Farm in Yorkshire verbringen.
Reitsport-Star und Publikumsliebling
Bei der EM '93 sicherte sich das britische Team erneut den Vizemeistertitel und John
Whitaker wurde mit dem Oldenburger Wallach Gammon Achter der Einzelwertung.
Zwei Jahre später verhalf Welham seinem Reiter zu Mannschafts-Silber, während das
Paar in der Einzelwertung mit Platz fünf knapp eine Einzelmedaille verpaßte. Bei den
Olympischen Spielen in Atlanta erzielte es 1996 in der Einzelwertung einen
respektablen neunten Platz, in der Mannschaftswertung erlebten die Briten mit Platz elf
allerdings einen schwarzen Tag. Im Worldcup-Finale '97 verpaßte John Whitaker mit
Welham mit Platz zwei einmal mehr nur knapp den erneuten Finalsieg. Bei der WM '98
in Rom gewannen John Whitaker und seine Nachwuchshoffnung Heyman
Mannschafts-Bronze. Im Worldcup-Finale 1999 wurden sie Zehnte. John Whitaker ist
der einzige Reiter, der mit Ausnahme von 1992, als Milton beim von Frankfurt aus
erfolgenden Abflug zum Finale plötzlich ausfiel, an allen Worldcup-Finalen teilnahm.
Zweimal gewann er es, dreimal wurde er Zweiter und weitere acht Mal kam John
Whitaker unter die zehn Bestplazierten. Nach dem kurzfristigen Ausfall von Flower vor
der EM '99 hatte es so ausgesehen, als würde auch die Olympischen Spiele 2000
ohne John Whitaker stattfinden. Doch da half ihm sein Bruder Michael, der mit Virtual
Village Prince of Wales selbst in Sydney am Start sein wird, mit Calvaro aus. Fast ein
Jahr lang war der braune Hengst, der zuvor von Michael Rüping und bis vor einem Jahr
von Jos Lansink geritten wurde, mit verschiedenen gesundheitlichen Problemen
außer Gefecht gewesen, doch nun kehrte er rechtzeitig für die Olympischen Spiele in
den Sport mit John Whitaker zurück.
Für das Publikum zählt John Whitaker auch ohne eine Pferdepersönlichkeit wie Milton
unter dem Sattel zu den absoluten Lieblingen. Trotz allen Erfolgs ist der Brite immer
bescheiden und aufgeschlossen geblieben. Diejenigen, die ihn für wortkarg halten,
kennen ihn schlecht. Allerdings besitzt er eine selten vorhandene Gabe, lange Fragen
mit wenigen, präzisen Worten kurz und treffend zu beantworten. Das beste Beispiel
hierfür macht noch heute regelmäßig die Runde: Auf die Frage bei einer
Pressekonferenz, was der größte Unterschied zwischen Ryan's Son und Milton sei,
antwortete er nur 'The color' – die Farbe. Noch Fragen?
Birgit Popp