Europa
Parlamentarisches Nachspiel der "Protokollaffäre" geht weiter
Fischer vor Auswärtigem Ausschuss - CSU fordert Erscheinen des Kanzlers
Berlin - Die Affäre um Veröffentlichung eines vertraulichen Botschaftsprotokolls wird den Auswärtigen Ausschuss des
deutschen Bundestags weiter beschäftigen. Nach Befragung von Außenminister Joschka Fischer beschlossen die Mitglieder am Mittwoch in
Berlin, die vertrauliche Sitzung demnächst fortzusetzen. Während Fischer erklärte, er habe "alle Fragen erschöpfend beantwortet", verlangte
der CSU-Abgeordnete Christian Schmidt, Bundeskanzler Gerhard Schröder müsse Widersprüche aufklären.
Hinter verschlossenen Türen befragte der Ausschuss auch die mittelbar Verantwortlichen für die Affäre, den deutschen Botschafter in
Washington, Jürgen Chrobog, und den außenpolitischen Berater im Kanzleramt, Michael Steiner. Das Protokoll war von Chrobog nach
einem Gespräch von US-Präsident George W. Bush mit Schröder und Steiner in Washington abgefasst und ans Auswärtige Amt geschickt
worden.
Unter anderem gibt es einen Bericht Steiners über dessen Besuch beim libyschen Staatschef Muammar el Gaddafi wider. Durch die
Indiskretion entstand der Eindruck, Gaddafi habe sich konkret zu dem blutigen Terroranschlag auf die Berliner Discothek La Belle 1986
geäußert und eine persönliche Mitschuld eingeräumt.
Fischer erklärte, Auswärtiges Amt und Kanzleramt schöben sich entgegen anders lautender Berichte nicht gegenseitig die Schuld an der
Affäre zu. Auch sollten keine personellen Konsequenzen gezogen werden, solange das Leck nicht gefunden sei. Die entscheidende Frage bei
der Indiskretion laute: "Wer war's?"
Als Konsequenz aus der Affäre kündigte Fischer eine höhere Geheimhaltungsstufe für solche Protokolle an. Weitere Maßnahmen gegen
Indiskretion wollte er nicht erläutern. "Der ganze Vorgang ist mehr als ärgerlich", sagte der Minister. Außenpolitischer Schaden sei aber nicht
angerichtet worden. Fischer stellte sich sowohl hinter Kanzler-Berater Steiner wie Botschafter Chrobog. "Die Bundesregierung steht hinter
ihren Leuten", sagte er.
Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Karl Lamers, nannte den Neuigkeitswert der Befragung im Ausschuss "äußerst begrenzt".
Die Erwähnung der La-Belle-Passagen im Protokoll sei "ganz unverantwortlich" gewesen, meinte der CDU-Politiker. Entgegen der
Darstellung der Regierung habe nicht jeder erkennen können, dass es sich nicht um ein Schuldeingeständnis Gaddafis gehandelt habe. Für ihn
sei Steiner der Hauptverantwortliche der Affäre. An dem außenpolitische Schaden sei aber das "fehlende Management der Regierung" in der
Affäre schuld.
Der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, kritisierte nach der Sitzung die seiner Ansicht nach unvollständige
Sachaufklärung. Unter anderem sei bei dem Protokoll unklar, wer welche Passagen geschrieben habe, sagte der FDP-Politiker.
Der CSU-Politiker Schmidt forderte, Schröder "muss Stellung beziehen". Unklar sei beispielsweise noch, warum die La-Belle-Passage
überhaupt in dem Protokoll gewesen sei, wenn die Bundesregierung überhaupt nicht über das Thema gesprochen haben wolle. Dies könne
nur der Kanzler aufklären. Schmidt sagte, der Ausschuss werde sich möglicherweise in der Pfingstpause in einer Sondersitzung erneut mit der
Affäre beschäftigen.
Nach Pfingsten will auch das Berliner Landgericht Steiner und Chrobog im La-Belle-Prozess wegen des Protokoll-Inhalts als Zeugen
vernehmen. Bei dem Anschlag waren drei Menschen getötet und mehr als 200 verletzt worden. Als Drahtzieher stand von Anfang an Libyen
in Verdacht. (APA/AP/dpa)