Wien - Jegor Strojew (64) saß in der letzten Phase der Sowjetunion im Zentrum der sich auflösenden Macht: Unter Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow war er ZK- Sekretär der KPdSU und Vollmitglied der Politbüros. Nach dem Zerfall der UdSSR 1991 leitete der ausgebildete Agronom ein landwirtschaftliches Forschungsinstitut in der Stadt Orjol südöstlich von Moskau, ehe er 1993 Gouverneur des gleichnamigen Verwaltungsgebiets wurde. In dieser Funktion wurde Strojew Anfang 1996 zum Vorsitzenden des neu geschaffenen Föderationsrates gewählt. Mit einer Parlamentarierdelegation hält sich Strojew gegenwärtig in Österreich auf. Am Dienstag traf er mit Bundespräsident Thomas Klestil, Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, Nationalratspräsident Heinz Fischer, Bundesratspräsident Gerd Klamt sowie mit Wirtschaftsvertretern zusammen. Im Exklusivinterview mit dem STANDARD bekundete Strojew zunächst Verständnis für die von Präsident Wladimir Putin eingeleitete Staatsreform. Durch die Politik Boris Jelzins gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken ("Nehmt euch so viel Freiheit, wie ihr verdauen könnt") sei auch Russland selbst Gefahr gelaufen, auseinander zu fallen. "Zahnlose Organe" Dass einzelne Regionen sich weigerten, Steuern an Moskau abzuliefern und Wehrpflichtige für die russische Armee einzuziehen, sei "Ausdruck der Zahnlosigkeit der föderativen Organe" gewesen. Das habe man sich auf Dauer nicht leisten können. "Massenhafte Verstöße" gegen die Steuergesetze hätten letztlich zu der großen Finanzkrise des Jahres 1998 geführt. Eine effiziente Staatsreform sei daher unumgänglich gewesen. Der Vermutung, dass die von Putin geschaffenen sieben großen Verwaltungseinheiten die Macht der 89 Gouverneure aushöhlen sollen, stimme er "kategorisch nicht zu", sagt Strojew. Die Gouverneure seien auch laut einer Weisung des Präsidenten mit den wirklich relevanten Aufgaben wie Exekution der föderalen Gesetze, Einhaltung der Menschenrechte etc. betraut. Es könne schon sein, dass die Chefs der sieben Großbezirke als verlängerter Arm des Präsidenten fungieren sollen. Aber: "Wir sind vom Volk gewählt und daher auch mit allen wichtigen Agenden beauftragt. Man kann uns die Macht auch nicht nehmen. Wer die Macht übernimmt, übernimmt auch Verantwortung. Und man greift eine glühende Eisenstange nicht mit bloßen Händen an." Ein Riesenland wie Russland zentralistisch zu regieren sei unmöglich. Worum es gehe, sei, bei Gewährleistung einer effizienten Zentralverwaltung als Ordnungsmacht, Freiraum für selbstständiges Handeln der Bürger und unternehmerische Initiative zu schaffen. "Wir müssen die Achtung gegenüber Begriffen wie Eigentum und Unternehmertum fördern und auch dazu erziehen. Eine Bewegung hin zum Unitarismus wäre eine Bewegung in Richtung Niemandsland." Russlands Beziehungen zum Westen werden sich laut Strojew positiv weiterentwickeln, und zwar wirtschaftlich noch schneller als politisch. Die westlichen Unternehmer hätten "großen Geschmack an den in Russland zu erzielenden immensen Profiten" gefunden, "und die Politiker werden ihnen nachlaufen, um die Wahlen nicht zu verlieren". Besorgt über "Säbelrasseln" der USA Im Verhältnis zu den USA habe es nach dem Amtsantritt von Präsident George W. Bush eine "zeitweilige Phase von Missverständnissen" gegeben. In Russland sei man sehr positiv gegenüber den Vereinigten Staaten gestimmt, doch gebe das "Säbelrasseln" Washingtons Anlass zur Sorge. Moskau könne "einen zweiten Rüstungswettlauf in globalem Maßstab nicht zulassen", sagte Strojew unter Hinweis auf die US-Pläne für eine Raketenabwehr. Denn wie ein russisches Sprichwort sage: "Auch mit einem ungeladenen Gewehr, das an der Wand hängt, wird einmal geschossen." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30. Mai 2001)