Wien - Auf einem weiträumigen Stadtplatz sitzen die beiden einstmals Verliebten Rücken an Rücken, und keiner nimmt Notiz vom anderen. Ihr steigt sein vertrauter Zigarettenqualm in die Nase, also schnorrt sie einen Fremden an. Dann rauchen sie gemeinsam. Die Szene aber bleibt unaufgelöst: kein plötzliches Erkennen, kein freudiges Wiedersehen. Der Zufall ist wieder einmal unwillig.

Die Liebenden des Polarkreises, der vierte Spielfilm des baskischen Regisseurs Julio Medem (Das rote Eichhörnchen), nimmt seinen Anfang mit der Flugbahn eines Balles. Der verfehlt zwar das Tor, dafür vereint er zwei Kinder, Ana und Otto. Ab diesem Moment verlaufen ihre Lebenswege parallel: Sie wachsen gemeinsam auf, werden aber nie richtige Geschwister, vielmehr ein jugendliches Liebespaar. Später verlieren sie sich aus den Augen, streifen sich kurz, bis sie am Ende am finnischen Polarkreis wieder aufeinander treffen.

Nicht nur die Namen der Liebenden des Polarkreises sind Palindrome, ergeben also in beide Richtungen gelesen denselben Sinn. Auch die vielfach verschachtelte Narration lässt sich als rhetorische Figur verstehen. Medem wechselt die Perspektiven, erzählt verschlungen einmal aus der Sicht Anas, einmal aus der Ottos und streut überdies visuelle Symbole, sinnträchtige Metaphern ein: Der Ball wird zur Sonne im Zeitraffer wird zur geweiteten Pupille, in der die Liebenden endlich zu einem Bild verschmelzen.

Alles ist hier überdeterminiert, eingeschrieben in einen Kreis der Liebe, wie die Geschichte eines deutschen Fallschirmspringers, der vom Himmel in den Schoß einer Spanierin fiel, die sich in der Gegenwart zwangsläufig wiederholen wird. Oder wie die Episode um ein Auto, das in mehreren Varianten notbremsen muss. Nur dass sich der Lauf der Dinge nicht anhalten lässt, weil es ein schöpferischer Wille so wollte.

Mit seinem Film reiht sich Medem in die Riege jener Regisseure ein, die eine besonders innige Beziehung zum Schicksal hegen. Ein Wahlverwandter Krzysztof Kieslowskis oder Tom Tykwers, stolpern seine Figuren blind durch die Welt, aber eine stille Macht fängt sie immer wieder auf. Hinter all den Koinzidenzen wirkt somit eine höheres Prinzip, ein metaphysisches Maschinenwerk, das die Figuren eisern umklammert - und dabei stets auch auf die manipulativen Absichten ihres Autors verweist, der ihnen keine echte Chance lässt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26./27. 5. 2001)