Kurz nach Ende der Plattform 1 in Wien wagte sich die mobile Documenta 11 erstmals auf außereuropäisches Terrain. Die Plattform 2 bespielte Neu-Delhi und diente somit als Beweisstück für das Konzept Okwui Enwezors, westliche Perspektiven zu überschreiten, berichtet STANDARD-Korrespondentin Angelika Fitz . Neu-Delhi - Das Gastgeberland selbst hat mit Mahatma Gandhi einen der wichtigsten Protagonisten des antikolonialen Befreiungskampfes hervorgebracht. Und bis heute produzieren indische Theoretiker entscheidende Beiträge im postkolonialen Feld oder haben Forschungszweige wie die "Subaltern Studies" neu entwickelt. Hier sind auch die Kunstschaffenden extrem sensibilisiert. Die Skepsis gegenüber dem internationalen Kunstmarkt, der sich noch immer als ein westlich geprägter zeigt, ist naturgemäß groß. Einerseits steigt die Tendenz zur Nivellierung indischer Formensprachen im postmodernen Universum globalisierter Kunstproduktion, während andererseits die Forderung nach dem "spezifisch Indischen" zu enge Grenzen setzt. Wahrheitssucher Enwezor stellte sich - im Gegensatz zu Catherine David, der Leiterin der Documenta 10 - bereits ein Jahr vor Kassel der Diskussion. Das Thema war für den Kontext gut gewählt: Unter dem Titel Experiments of Truth wird der Angemessenheit von Wahrheitsbegriffen nachgegangen. Der Untertitel Transitorische Gerechtigkeit, Wahrheitsprozesse und Versöhnung deutet es bereits an: Im Mittelpunkt des Interesses stehen neue juridische und soziale Verfahren wie die "Wahrheitskommissionen", die besonders in Afrika der Vergangenheitsbewältigung dienen. Denn auch der indische Subkontinent trägt ein schweres Erbe. Während der Teilung in Indien und Pakistan fielen Hunderttausende ethnischen Säuberungen zum Opfer. Wie kann die Erfahrung von Kriegsverbrechen, Genoziden von Einzelnen oder vom kollektiven Gedächtnis "verarbeitet" werden? Die Konferenz widmete sich nicht nur den legistischen Facetten dieses Problems, sondern vor allem den sozialen, philosophischen und kulturellen Implikationen. Zum Auftakt lieferte der ugandische Theoretiker Mahmood Mamdani eine brillante Analyse der Zusammenhänge von kolonialer und postkolonialer Identitätspolitik mit kommunaler Gewalt. Mamdani, seit kurzem Direktor des Instituts für Afrikanische Studien an der Columbia-Universität in New York, konzentrierte sich auf die Ursachen "nicht revolutionärer" Gewalt. Er charakterisiert damit Situationen, in denen nicht für einen politischen Umsturz gekämpft wird. "Wenn Opfer zu Mördern werden", so geschehe dies aufgrund von kulturellen, ethnischen oder religiösen Unterschieden. Mamdani verweist auf die politische Konstruiertheit dieser Unterscheidungsmerkmale, die weithin als natürlich akzeptiert werden. Als Beispiel wählte er die blutigen Auseinandersetzungen in Ruanda und bemühte sich um eine präzise Klärung der Begriffe von kultureller und politischer Identität. Er wandte sich gegen eine zu umfassende Ausdehnung des Begriffs "Kultur". Multiple, hybride kulturelle Identitäten befreien uns nicht von legistischen Identitäten, wie sie der Staat festschreibt. Sie bleiben deshalb "Privatsache". "Warum spricht hier niemand über das Monster Amerika?", wollte die Grande Dame der indischen Kunstkritik, Geeta Kapur, wissen. Ihr Zorn entzündete sich gerade an der Fokussierung der Konferenz auf die Peripherie. Dem gegenüber stand die vehemente Forderung der überwiegend nicht westlichen Teilnehmer nach einer selbstkritischen Reflexion von Machtmissbrauch und Gewalt in Afrika, Asien oder Lateinamerika. Immer wieder wurden auf dem akademischen Terrain der Plattform realpolitische Konflikte ausgetragen: Das Publikum bewies bei seinen Interventionen einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit. Die Dramatik der Diskussionen ließ die Plattform 1 in Wien retrospektiv recht blass erscheinen. Manchem gingen die "Wahrheitsexperimente" in Delhi auch zu weit: Der marokkanische Botschafter polemisierte heftig gegen eine Vortrag über Menschenrechtsverletzung in seinem Land. Dabei war das Thema der letzten Tage eigentlich ein stilles. Extreme Formen der Gewalt wie Genozid, Folter und ethnische Säuberungen scheinen außerhalb des Sprechbaren zu liegen. Welche Struktur, welche Sprache hat systematisch organisierte Gewalt? Was erzählen uns die Bildarchive? Welche ästhetischen Mittel stehen zur Verfügung, um die Meistererzählungen der Archive zu brechen? Nicht nur in unserer Erinnerung des Holocaust ersetzen Bildikonen das Archiv. Aktuell entzündete sich die Diskussion rund um die Medienberichterstattung über die "Wahrheitskommission" in Südafrika. Diese Kommission zur Aufarbeitung des Apartheitsregimes garantierte den Tätern bei Geständnis Straffreiheit. Ihr Suchen bestand in einer theatralischen Wiederaufführung der Gewalt mit authentischen Hauptdarstellern. Der südafrikanische Kurator Rory Bester versuchte anhand der "TRC-Fotografie" aufzuzeigen, inwiefern hier der gepeinigte Körper zum Spektakel wird. Einen überzeugenden Beitrag lieferte der Dokumentarfilmer Eyal Sivan mit der Präsentation seiner Ruanda-Dokumentation It Simba, T'smba. Rwanda one Genocide later von 1997. Seine Strategien in der Relektüre von Bildarchiven besprach er auch anhand seiner preisgekrönten Dokumentation des Eichmann-Prozesses Der Spezialist . Diese ist Teil des von Mark Nash kuratierten Filmprogramms. Die Schau enthält Dokus und Archivfilme, von den Nürnberger-Prozess-Dokumenten bis zu neueren afrikanischen und indischen Produktionen. Insgesamt markiert die Plattform 2 eine deutliche Steigerung der diskursiven Intensität. Das Feld der Kunst wird nicht mehr ausgeklammert. Ihre Einbindung wird laut Kokuratorin Ute Meta Bauer bei den nächsten Plattformen weiter forciert. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25. 5. 2001)