Wien - Die armen Erwachsenen müssen in die "echte" Oper hinübergehen. Dort ist alles so steif, nur die Sängerinnen und Sänger dürfen brüllen, und tief in einem Graben bewegt ein älterer Herr seine Arme wie Propeller; dabei fliegen dort nur Frackschöße. Bevor die Eltern sich aber in die Staatsoper ausführen, können sie ihren Kindern (von sechs bis 14) im gegenüberliegenden Karajan Centrum einen Abend schenken:

"Opera Viva" heißt das Projekt, in welchem das Centrum parallel zur Staatsoper mit den Kindern die jeweilige Oper neu erfindet. Es ist keines der lieblosen Kinderprogramme im Kindertantenton, den Kinder so hassen. Hier werden sie von Klaudia Kadlec und ihrem Team gleichberechtigt behandelt (ein tiefer Kinderwunsch: wie Erwachsene ernst genommen zu werden).

Auf dem Programm standen bisher Madame Butterfly, Die Zauberflöte, Don Carlo, aber auch schon Lohengrin ("Wann geht der nächste Schwan?": Leo Slezak). Am vergangenen Samstag: Hoffmanns Erzählungen. Es war fantastisch.

Ein großer Saal mit weichem Teppich, auf dem etwa 50 Kinder, soeben in die schönsten und wirklich echten Kostüme geschlüpft, hocken. "Der Hoffmann ist ein junger Dichter, und der ist verliebt", beginnt Frau Kadlec - allgemeiner Aufschrei: "Oh!" (Die Mädchen, so schien es, "ohten" noch kräftiger). Da dem Dichter seine Stella bekanntlich mit Alkohol ausgetrieben werden soll, braucht man Bier- und Weingeister (noch nie so entzückende Weingeistlein gesehen!) und natürlich auch einen Wirt: "Ich will Barkeeper sein!", ruft ein Kleiner mit roten Wangen.

Vor allem aber reißen sich die Buben um die Studentenrollen in Auerbachs Keller: In der Studentenzeit, so ahnen sie vielleicht schon, verlässt man die eigene Familie. Die sitzt jetzt drüben. Das gilt es hier auszunützen (als im dritten Akt die Studenten, von imaginärem Wein beduselt, schon heftig grölen, sagt Frau Kadlec: "Aber die im Keller sind jetzt schon so betrunken, dass sie schlafen" - und es ist still, man kann wieder konzentriert Musik hören).


Die Welt-Verschiebung

Kinder, so beobachtete Walter Benjamin 1926 in Aussicht ins Kinderbuch, dringen "wie Gewölk" in Geschichten ein: "In solch farbenbehängte, undichte Welt, wo bei jedem Schritt sich alles verschiebt, wird das Kind als Mitspieler aufgenommen." Genau dies scheint das Ziel dieser Abende. In deren Ablauf wird den Kindern nie Kindlichkeit vorgemacht. Die Schwerter, mit denen im letzten Akt gekämpft wird, sind keine Plastikschwerter, sondern mindestens so "echt" wie die in der Oper ("Ich muss dich jetzt abstechen", ruft Nicolas, der Star des Abends. "Nein!", sein Nebenbuhler. "Doch, steht so in der Inszenierung!").

Der Abend changiert klug zwischen Mitspielen, Zuhören und Tanz: In der Musik, eingespielt und "live", wirkt der Perfektionist Karajan positiv nach. Ein Höhepunkt: Da trat, aus der sich öffnenden Flügeltür heraus, die Automatenpuppe Olympia als Pierrot herein (Milagros Poblador). Bei ihrer Koloraturarie bebte der Saal, nicht nur der Vollkommenheit, sondern auch der Frequenzen wegen: "Ich habe die Scheiben gespürt!", rief eine Achtjährige mit riesigen braunen Augen.

Anschließend - wie bei allen Produktionen - eine zeitgenössische Auftragskomposition: Max Nagl hatte eine rumpelnde, wie alte Paternoster-Aufzüge knarrende und zuletzt in Rockrhythmen übergehende "Automatenmusik" komponiert, und die Kinderbande lernte unter Anleitung des Tänzers Michael Rot die Bewegungen des Automaten. Ein weiteres Highlight, wie in der Erwachsenenoper, die Pause: Da standen am Buffett auch Obstschüsseln mit Äpfeln. Eine Kleine, sie hieß Maria, ging hin, nahm sich zwei und schob sie sich als eine Art von echt ökologischer Siliconbrust ins Kostüm. Viele taten es ihr nach, sodass die Betreuerinnen, bevor es in den venezianischen Palast ging, pflücken mussten: Das Gewicht hätte, zusammen mit dem befreiten Gelächter, die imaginären Gondeln des Schlussakts sicher zum Kentern gebracht. (Richard Reichensperger/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 5. 2001)