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Am 26. September 1918 kapitulierte Bulgarien. Nun war der Vorstoß der alliierten Armeen auf Ungarn frei. Trotz der sich rapid verschlechternden Kriegslage und der katastrophalen Ernährungssituation in den Monaten zuvor war die führende Schicht Ungarns blind für die Zeichen der Zeit. Weder der Vorschlag König Karls, das allgemeine Wahlrecht einzuführen, noch Vorschläge für eine Föderalisierung des Staates wurden akzeptiert. Noch immer glaubte man, die territoriale Integrität Groß-Ungarns erhalten zu können. Als die Nationalitäten - Slowaken und Rumänen, Kroaten, Serben und Ukrainer - sich von der Habsburgermonarchie zu verabschieden begannen, wurde auch den ungarischen Politikern klar, dass es nun galt, wenigstens - in der Hoffnung auf die von US-Präsident Wilson verkündete Selbstbestimmung - die überwiegend magyarischen Gebiete zu halten. Zugleich verlangten die Massen, vor allem die aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Soldaten, in Demonstrationen grundlegende soziale Reformen. Man setzte auf den Grafen Mihály Károlyi, einen der reichsten Großgrundbesitzer, der sich vom einstigen Lebemann zur Galionsfigur der oppositionellen "Neuen Unabhängigkeitspartei" gewandelt hatte. Er hatte vor dem Krieg gute Beziehungen zu Frankreich und war ein Gegner des Bündnisses mit Deutschland. König Karl gab jedoch dem Verlangen, den bisherigen Ministerpräsidenten Sándor Wekerle durch Károlyi zu ersetzen, nicht nach und berief den Grafen Hadik zum Regierungschef (wobei eine Intrige von Károlyis Schwiegervater Gyula Andrássy den Ausschlag gab). Daraufhin bildeten die Oppositionskräfte einen Nationalrat, der ein Programm für Demokratisierung, Pressefreiheit und Agrarreform beschloss. In der Nacht vom 30. auf 31. Oktober übernahm Károlyi in der so genannten "Astern-Revolution" putschartig die Regierungsgewalt. Als Karl am 11. November auf seine Herrscherrechte verzichtete, rief Károlyi die unabhängige Republik aus. Das einzige prominente Opfer der unblutigen Revolution war der frühere Ministerpräsident István Tisza, der in der Nacht zum 31. Oktober von marodierenden Soldaten in seiner Villa ermordet wurde. Für das durch Jahrhunderte von den adeligen Großgrundbesitzern beherrschte Ungarn war die Agrarreform der wichtigste soziale Akt. Latifundien über 250 und Kirchenbesitz über 100 Hektar sollten gegen Entschädigung enteignet und an Kleinbauern und Landarbeiter übergeben werden - ein langwieriger Prozess, der, da die eigenmächtige Besetzung des Bodens verboten blieb, kaum zur Durchführung gelangte. Lediglich Graf Károlyi selbst verteilte seinen Besitz. Károlyis fortschrittliche Nationalitätengesetze kamen freilich - wie einst 1848/49 - viel zu spät. Am 13. November unterzeichnete Ungarn den Waffenstillstandsvertrag, der die Demarkationslinie ungefähr an den ethnischen Grenzen festlegte. Ein Flüchtlingsstrom von Magyaren aus "Oberungarn" (der Slowakei) und Siebenbürgen ins Zentrum setzte ein. Die Alliierten - auch die Tschechen waren nun als solche anerkannt - dachten aber nicht daran, die Waffenstillstandslinie einzuhalten; sie rückten weiter vor. Als der französische Oberbefehlshaber an der Südfront, General Vix, am 20. März 1919 in einem Ultimatum an Budapest das Vorrücken auf eine neue Demarkationslinie, die zugleich als künftige Staatsgrenze gelten sollte, ankündigte, sah sich Károlyi nicht in der Lage, die Bedingungen anzunehmen, und übergab die Regierungsgewalt der Sozialdemokratischen Partei. Was Károlyi nicht wusste, war, dass die Sozialdemokraten unmittelbar vorher mit den im Gefängnis sitzenden Führern der im Dezember 1918 unter Führung des aus Russland heimgekehrten Béla Kun Verhandlungen aufgenommen hatten und eine Vereinigung der beiden Parteien zur Sozialistischen Partei Ungarns beschlossen worden war. Kun hatte sich den Bolschewiken angeschlossen und war als Lenins Emissär in seine Heimat gekommen. Trotz der zahlenmäßigen Schwäche seiner KP wurde er zum führenden Kopf der am 22. März proklamierten Räterepublik. Sie bekannte sich zur "Diktatur des Proletariats" (ein Vorgang, den der österreichische Sozialdemokrat Otto Bauer als eine "Diktatur der Verzweiflung" bezeichnete). Die Räteregierung mutete sich ein gewaltiges Programm zu, das sofort umgesetzt werden sollte: Großbetriebe, Banken und Verkehrsunternehmen wurden sozialisiert und von Arbeiterräten übernommen, der Großgrundbesitz über 50 Hektar wurde entschädigungslos enteignet, aber - zur großen Enttäuschung für die Landlosen und kleinen Bauern - nicht aufgeteilt, sondern in landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften umgewandelt, die die Versorgung der Industriearbeiterschaft in den Städten sicherstellen sollten. Das von Károlyi begonnene soziale Programm - Krankenversicherung, kostenlose medizinische Betreuung und Festlegung von Mindestlöhnen - wurde fortgesetzt. Für die Kulturpolitik war der Philosoph György Lukacs verantwortlich; zahlreiche progressive Künstler traten propagandistisch für die "neue Ordnung" ein. Staat und Kirche wurden getrennt, das Schulwesen wurde verstaatlicht. Vom Wahlrecht waren die Besitzenden ausgeschlossen, bei den ersten Rätewahlen war nur rund die Hälfte der Bevölkerung wahlberechtigt. Revolutionstribunale verfolgten politische Gegner, daraus wurde, insbesondere seit Beginn der Kampfhandlungen mit alliierten Truppen, der "rote Terror", dem an die fünfhundert Menschen zum Opfer fielen. Die Alliierten waren nicht willens, der Ausbreitung des Bolschewismus tatenlos zuzusehen. Die militärische Unterstützung Lenins, auf die Béla Kun gezählt hatte, blieb aus, weil die Bolschewiken sich selbst der Interventen und der "Weißen" erwehren mussten und der nun einsetzende Vormarsch der Rumänen die mögliche Verbindung Ungarns mit Sowjetrussland abschnitt. Auch tschechoslowakische Truppen rückten bis an die Donau vor, im Süden erweiterten Franzosen und Jugoslawen ihre Besetzungszone. Dennoch gelang es Kun, eine Rote Armee von 200.000 Mann aus dem Boden zu stampfen; zu ihr gesellten sich 10.000 Freiwillige aus anderen Ländern (Leo Rothziegel, österreichischer Rotgardist der ersten Stunde, fiel als Kommandeur eines internationalen Regiments bei Debrecen). Zunächst gelang es den roten Truppen, die östliche Slowakei zurückzuerobern und in Presov eine "Slowakische Räterepublik" auszurufen. Frankreichs Clemenceau verlangte den Rückzug, und als die Räteregierung zögerte, diktierte er in einer Note die neuen Grenzen zur Tschechoslowakei, die Ungarn anzunehmen habe. Die Rote Armee zog sich zurück, aber nun marschierten die Rumänen gegen alle Vereinbarungen bis an die Theiß vor. Die Entente lehnte alle weiteren Verhandlungen mit Kun ab. Die Offensive seiner Roten Armee gegen die Rumänen brach zusammen. In Arad war eine "weiße" ungarische Gegenregierung ausgerufen worden, sie etablierte sich dann unter dem ehemaligen k.u.k. Admiral Miklós Horthy im französisch besetzten Szeged. Die rumänischen Truppen marschierten auf Budapest. Am 1. August 1919 gab die Räteregierung auf, Béla Kun und seine Getreuen flüchteten nach Wien (Kun ging dann in die Sowjetunion und wurde 1939 ein Opfer von Stalins "Säuberungen"). Die rumänischen Truppen besetzten am 4. August 1919 Budapest. Die dort amtierende sozialdemokratische Regierung trat zurück. Mehr als drei Monate lang war die ungarische Hauptstadt von den Rumänen besetzt. Erst am 16. November konnte Horthy, in Admiralsuniform auf einem Schimmel sitzend, an der Spitze seiner "Nationalen Armee" in Budapest einziehen. Dem "roten" folgte der "weiße Terror", er forderte schätzungsweise das Zehnfache an Opfern. Die Großgrundbesitzer und Offiziere mit ihren Mordkommandos wollten nicht nur den Arbeitern revolutionäre Gelüste ein für allemal austreiben, ihre "Rache" traf insbesondere auch viele Juden, waren doch Béla Kun und andere führende Leute des Rätesystems jüdischer Herkunft; allerdings wurde ihr Kommunismus in jüdischen Bank- und Handelskreisen keineswegs goutiert. Doch dem Antisemitismus, der noch unter Wekerle, dem ersten nicht adeligen Politiker Ungarns, der die Zivilehe einführte und die israelitischen gleichberechtigt mit den christlichen Religionsgemeinschaften machte, zunächst als Kulturkampf geführt worden war, war ja jede Differenzierung fremd. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe 19./20. 5. 2001)