Wien - Eine Nation, zwei Lageberichte. "Die Lage der Nation ist alles andere als erfreulich." Der Befund von Falter-Chefredakteur Armin Thurnher sah deutlich anders aus als der vom Regierungschef verkündete Nationszustand. Acht Journalisten hielten ihre "Rede zur Lage der Pressefreiheit der Nation" dagegen. Anlass für die Besorgnis der Medienvertreter ist die von Justizminister Dieter Böhmdorfer geplante Strafprozessreform - vor allem das Veröffentlichungsverbot in § 56, das Journalisten mit Geld- und Haftstrafen bedroht. Tenor der Journalistendiagnose - neben Medienkollegen war mit SP-Chef Alfred Gusenbauer und Grün-Abgeordnetem Peter Pilz nur die Opposition dabei - war der von VP und FP beabsichtigte Wandel des gesellschaftlichen Klimas. STANDARD-Kolumnist Hans Rauscher warnte vor dem "Versuch der Einschüchterung" von Kritikern und appellierte an Schüssel, "alle Versuche seines Koalitionspartners, die Medienfreiheit einzuschränken, einzubremsen oder abzustellen". Versuch, den Autoritarismus zu proben Thurnher - er sprach vom "Versuch, den Autoritarismus zu proben" - zählte zu den "sieben Todsünden der Wende", dass "die Justiz in den Dienst einer Partei genommen wird" - gemeint war die FPÖ. Andreas Koller, Innenpolitik-Chef der Salzburger Nachrichten, meinte, "bei dieser Regierung - vor allem bei Minister Böhmdorfer - gibt es keine Zufälle". Verweise auf den Schutz Unbeteiligter seien "Heuchelei und Scheinheiligkeit". STANDARD-Innenpolitik-Chefin Katharina Krawagna-Pfeifer sieht in Böhmdorfers Strafprozessreform eine "Wende ins Autoritäre". Franz C. Bauer, Präsident der Journalistengewerkschaft, vermutet "Rache" an unbequemen Journalisten: "Herr Böhmdorfer, treten Sie endlich zurück." Journalisten sollen, so ORF-Redakteurssprecher Fritz Wendl, durch die juristischen Umbauarbeiten "müde" gemacht werden. Rubina Möhring von "Reporter ohne Grenzen" appellierte an das Europäische Parlament, eine verbindliche Medien-Konstitution zu erarbeiten. Profil-Herausgeber Christian Rainer konstatierte indes auch ein "absolutes Versagen der Eliten. Die Sensibilität gegenüber neuen Tabubrüchen scheint geringer zu werden." (DerStandard,Print-Ausgabe,16.5.2001)