Seine Parteifreunde ruhig zu stellen, auch wenn sie etwas unzufrieden sind mit Politik und Präsentation der schwarz-blauen Regierung, ist für Bundeskanzler und ÖVP-Obmann Wolfgang Schüssel kein Problem: Erstens ist er darin geschickt, zweitens sind keine nahen Wahlen zu fürchten und drittens haben sie keine Alternative. Aber unabhängig von dem, was Schüssel mit seinem Auftritt in der Hofburg in Erinnerung rufen wollte, erinnerte er mit seiner Rede zur Lage der Nation unausgesprochen an die Vergänglichkeit auch dieser Legislaturperiode und damit an das Schicksal einer Kanzlerschaft, die die große Wende im Leben dieser Nation einleiten sollte: Die Hälfte ist vorbei, aber die Begeisterung, die mit den alten Slogans anzufachen er sich auch gestern wieder bemüht hat, hält sich in Grenzen, wo sie ihrem Höhepunkt entgegenbrausen müsste. Die Regierung hat ihre großen Versprechen noch gar nicht offiziell als unerfüllbar platzen lassen, die Opposition musste noch gar nicht mit Einfällen aufwarten, aber ob und wie die Koalition Schüssel-Riess-Passer die Wende in eine zweite Amtsperiode schaffen kann, ist derzeit keineswegs klar.

Die Vorschusslorbeeren, die viele Bürgerinnen und Bürger ihr einzuräumen bereit waren, welken in dem Maße dahin, in dem sich die Zahl ihrer Opfer erhöht. Der Kitt der EU-Sanktionen, der dieser Regierung in den ersten Monaten Halt verlieh, bröckelt langsam ab, das Gefühl, einer fast drei Jahrzehnte währenden Herrschaft roter Bundeskanzler entronnen zu sein, an dem sich zunächst viele berauschten, lässt mit jeder Woche unter der neuen Wirklichkeit nach. Was bleibt ist Alltag, und der wird für viele härter - rot-weiß-rote Kanzlerrhetorik ändert daran nichts.

Es ist ja nicht nur der frühere Finanzminister Rudolf Edlinger, der die große Buchhalternummer dieser Regierung, das Nulldefizit, für undurchführbar hält. Schon für das Wahljahr 2003 prophezeit er eine Explosion des Defizits. Schwarzseherei eines Oppositionellen? Auch der ÖVP-Landeshauptmann Tirols meint, es sei politisch unlauter, an der Botschaft vom Nulldefizit festzuhalten. Und er ist nicht der Einzige. Für die Belastungen, die die Bürger für dieses Ziel auf sich nehmen müssen, sollten sie mit einer großen, einer spürbaren Steuerreform wieder entlastet werden. Aber kein seriöser Politiker, nur der FPÖ-Klubobmann Westenthaler, der sie für 2002 verspricht, sieht derzeit die Möglichkeit dazu. Besteht doch die Wirtschaft und insbesondere Schüssel-Freund Christoph Leitl auch unnachgiebig auf einer Senkung der Lohnnebenkosten im Ausmaß von 15 Milliarden Schilling. Da müssten schon Leute her, die der Quadratur des Kreises mächtig sind.

Aber wer sich, wie der Bundeskanzler, für die Verkörperung des nichts bereuenden Weltgeistes hält, geht im Angesicht der Nation auf solch niedrige Fragen gar nicht ein. Er berief sich darauf, "parlamentarische Mehrheiten sind kein Irrtum, den man weginterpretieren kann". Parlamentarische Mehrheiten, insbesondere knappe mit unberechenbaren Partnern, sind in einer Demokratie aber auch nicht der Wählerweisheit letzter Schluss, sondern stehen spätestens am Ende einer Legislaturperiode wieder zur Diskussion.

Und dieses Ende ist allmählich abzusehen. Österreich brauche frischen Wind und tiefgreifende Erneuerung vieler Strukturen, versuchte sich der Kanzler seine Lage vor der Nation schönzureden. Strukturen erneuern wie in der ÖIAG? Frischen Wind erzeugen wie die Prinzhorns und Forstingers, die Haupts und Böhmdorfers? Oder wie bei der Bundesstaatsreform? Zu dumm, dass der Bürger Kunde ist und nicht mehr Untertan - laut Schüssel. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.5.2001)