Fand das eigentliche Theater nicht vor der Premiere statt? Christoph Schlingensief hatte die Stimmung in Zürich jedenfalls so angeheizt, dass alles gebannt auf die Premiere wartete und sogar Sicherheitskräfte aufgeboten wurden. Ob er die Provokation auf der Bühne fortsetzen könne, fragte sich mancher. Ob das nicht gar eine eher traditionelle Aufführung gebe? Tatsächlich rieb man sich die Augen, als zu Beginn eine kostümierte Wache vor den Vorhang trat, um wie gewohnt nach dem Geist Ausschau zu halten - und das in August Wilhelm Schlegels Übersetzung. Ganz gewöhnlich war's freilich nicht, denn da schon schob sich ein starr dreinblickender Mann in Frauenrock durchs Bild. ch verändert wurde: eingekocht auf Kernstellen, gestrafft auf neunzig Minuten, mit nicht immer eindeutiger Rollenverteilung, mit komischen Elementen und eigenwilligen Deutungen. "Sein oder Nichtsein" etwa wurde zu einem Nachtclub-Monolog mit Diseur (Sebastian Rudolph als Hamlet). Einiges Textmaterial stammte von der Tonspur einer Gründgens-Inszenierung; selbst Lawrence Olivier tauchte auf. Zombie-Theater. Nicht alles war gleichermaßen konsequent oder einleuchtend umgesetzt, aber vielleicht spiegelte sich gerade darin der Arbeitsprozess wider. Er sei an Hamlet ganz irre geworden, sagte Schlingensief in einem Interview: "Die ständige Umkehrung, die fehlende Zielstrebigkeit, permanent ist alles möglich." Das wurde in der Inszenierung spürbar. Wie nebenher entstanden aber unter dem forcierten Einsatz von Musik (Wagner, Rock, Soundtracks aus Hitchcock- und Psychopornofilmen) auch einzigartige, wunderbare Theaterbilder (Bühne: Jo Schramm). Zuweilen glaubte man sich in einer Revue: Stummfilmpathos, Schattentheater, Politdemos, Schlingensief-Entertainment etc. folgten aufeinander. Der letzte Rest an Bühnenwirklichkeit wurde in Kommentaren gebrochen. V-Effekt 2001, Theater übers Theater. Realität und Theater gingen so ständig ineinander über. Auf diese Irritation versteht sich Schlingensief wie kaum ein Zweiter. Methode hat, dass keine klare Zuordnung mehr möglich ist. Brenzlig wurde es erst, als die Ex-Neonazi-Schauspielertruppe auftrat. Hamlet fiel endgültig auseinander, das Theater wurde zur "Mausefalle". Betäubt vom Rocksound harrte das Publikum aus. Ein "Provokateur" versuchte, Reaktionen auszulösen. Die Ex-Neonazis redeten erst wirr durcheinander und verlasen schließlich ein Manifest, Flugblätter flatterten ins Publikum. Mit einem schönen Schlusstableau wurde Hamlet ins Schweigen geschickt. So beklemmend dieser ganze Höhe- und Schlusspunkt auch wirkte: Waren das wirkliche oder nur angebliche Rechtsradikale? Was war hier gestellt, was real, was arrangiert, was medial? Geriet Schlingensief nicht selbst in die Mausefalle? Scheiterte er nicht an seinem Projekt? Gerade diese Ungewissheit ist anregend - und sicher allenfalls, dass Hamlet in Zürich für Diskussionen gesorgt hat. Shakespeare lässt vieles zu. Und doch bleibt diese Inszenierung einer Vision verbunden: Shakespeare als theatrale Wirklichkeit und nicht als getreulich realisierter Theatertext. Vieles bleibt dabei offen. Über den Rest wird wohl noch viel gesprochen werden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12./13. 5. 2001)