"Ich kann meiner Natur nach nur ein Mandat übernehmen, das niemand mir gegeben hat. In diesem Widerspruch, immer nur in einem Widerspruch kann ich leben."

In dieser Aussage von Franz Kafka liegt im Grunde die Widersprüchlichkeit der jüdischen Tradition, die aber gerade daraus ihre Kraft zur Erneuerung schöpft: jüdische Existenz in jeder Epoche der Geschichte als Aufgabe zu leben. Jede Generation, Männer, Frauen und Kinder, steht erneut am Berge Sinai, um die Tora als Weisung zum Leben zu bekommen, als Gabe zum Aufbruch in eine neue und hoffentlich bessere Zukunft. Die Gegenwart von damals wird zu einem Heute. (...)

Nach dem Zivilisationsbruch Europas ist es nicht leicht, die Gegenwart als Brücke zu verstehen, die von der Vergangenheit zur Zukunft führt, und das Judentum auch für die nächste Generation relevant und glaubwürdig zu machen. In seiner Antrittsrede vor den versammelten Vertrauensmännern der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde am 23. April 1918 hatte bereits der bis heute berühmte und einflussreiche Oberrabbiner Zwi Perez Chajes auf der Schwelle seiner Amtsübernahme von dieser Schwierigkeit gesprochen:

Gemeinsame Tradition

"Es muss möglich sein, unserer Jugend erklärlich zu machen, dass Jude sein nicht eine Unehre und eine Last ist, dass es sich lohnt, für das Judentum zu kämpfen und wie weit mit dem Judentum das Schicksal der Menschheit und ihrer Kultur verknüpft ist."

In den vielen Gesprächen, die ich in den letzten Wochen in Wien mit jüdischen und nicht jüdischen Eltern von heranwachsenden Kindern geführt habe, klangen ähnliche Töne an: der Wunsch, aus einer gemeinsamen Tradition Kraft zu schöpfen, um so den Bruch zu heilen über dem Abgrund, der trotz aller Versöhnungsarbeit und Aufarbeitung der Vergangenheit noch immer und immer wieder zwischen Judentum und Abendland aufbricht.

Im Judentum führt die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte als Quelle des Selbstverständnisses in allen Epochen zu neuen Einsichten. Die Geschichte des Volkes Israel wird nämlich im Geschehen einer jeden Zeit neu erlebt und gewinnt so symbolische Bedeutung für die Zukunft. Jedes Geschehen, sei es eine Errettung, sei es eine Katastrophe, bietet Anlass, in verständlicher Sprache zu erkun-den und auszudrücken, was in der Erfahrung gelernt wurde, um die Zukunft aufzubauen. Die Krise der Tradition ist so gerade ein fruchtbarer Boden für einen Neuanfang. (...)

Es geht nämlich nicht nur um das Wachhalten der Erinnerung an das Leiden der Hingemordeten, nicht nur um die politischen Implikationen der Restitutionsdebatte - dies alles stünde noch immer unter dem Zeichen der Schuldfrage -, sondern es geht hier um die kardinale Frage: Gibt es für die nächste Generation eine Möglichkeit, sich der eigenen Tradition zu stellen? Gibt es eine Tradition - ein geistiges Gedankengut, woraus ein neues Ethos erwachsen kann, welches aus einem genuinen Trauerakt, einem wirklichen Gefühl des Verlustes, Kräfte für neue Anfänge schöpft?

Es geht hier um mehr als um die Selbstachtung oder die Achtung vonseiten der anderen. Sicherlich ist es nicht angemessen, die angetretene Haftung durch einebnende Vergleiche herunterzuspielen, die Singularität der Nazi-Verbrechen wie auch die Teilnahme Österreichs zu relativieren, aber wächst nicht auch, gerade dadurch, durch das Verbrechen an den Juden, eine Einsicht: die Aufgabe, gerade das "Jüdische" in der europäischen Tradition neu zu entdecken? (...)

Es schmerzt mich als gebürtige Wienerin, dass die 1988 in der Leopoldsgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk errichtete Gedenktafel an die Zerstörung des Polnischen Tempels in der so genannten Kristallnacht 1938 - jenes Tempels, wo acht Jahre davor meine Eltern am 23. März 1930 geheiratet haben - erst 50 Jahre danach und dann an einem Pfosten auf der Straße befestigt wurde und nicht am Gebäude selbst.

Gemeinsamer Verlust

Wir Juden wissen, was wir verloren haben, aber wie steht es mit dem Abendland? Die Ausgrenzung des Verbrechens an den Juden wäre somit ein Verbrechen an der Tradition selbst, der Quelle, aus der jede Gesellschaft ihre geistigen Kräfte für eine Erneuerung schöpft. Was wäre ein besserer Akt der Erinnerung, als am eigenen Haus an die Zerstörung und an das verlorene Erbe zu erinnern, so wie Juden eine Ecke der Synagoge ungepflastert lassen als Erinnerung an die Zerstörung des Tempels? (...)

Solange das "Jüdische" nicht als ein Teil der eigenen Geschichte begriffen wird, bleibt das "Jüdische" als das "Fremde" stehen, das "Fremde" in jedem Einzelnen wie auch in der Gesellschaft das "Fremde", das zu jedem Preis bekämpft werden müsse.

Orte der Erinnerung sind in dieser Hinsicht nicht nur Begegnungsstätten, die am Jahrestag begangen werden, sondern Geburtsorte des Neuanfangs, Orte, wo die Gegenwart sich in rückwärts gewandtem Blick für die Zukunft öffnet, wo die hypothetische Frage "Welche Welt würde ich wohl durch mein Handeln schaffen, wenn es in meinem Vermögen stünde?" Bedeutung gewinnt.

Eveline Goodman-Thau ist Rabbinerin der jüdisch-liberalen Gemeinde Or Chadasch in Wien. Ihre feierliche Inauguration erfolgte am 6. Mai in der Nationalbibliothek.

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8.5. 2001)