In Wien präsentierte der Bestsellerautor dieser Tage einen Band mit politischen Essays und sprach mit Richard Reichensperger über Politik, Kultur und Zeitungswesen seit 1945.

Wien - Der 1924 in Wien geborene Johannes Mario Simmel hat ein politisches Buch vorgelegt: Die Bienen sind verrückt geworden. Reden und Aufsätze über unsere wahnsinnige Welt (C.H. Beck). Auf einer Deutschland-Tournee las er es mit der Schauspielerin Iris Berben, in Österreich mit Andrea Eckert.

STANDARD: Ihr Engagement muss früh geprägt worden sein. Schon Ihre ersten Storys 1945 zeigen das. Wie war denn die Zeitungslandschaft bei Kriegsende?

Simmel: 1946 holte der Chefredakteur Rudolf Kalmar mich und Hellmuth Andics ins Neue Österreich. Ich schrieb dort Storys, die Mut machen sollten. Später wollte die Weltpresse etwas Ähnliches. Hier verfasste ich Geschichten unter dem Lauftitel Für den Sonntag geschrieben. 1951 ging ich nach Deutschland. Mein Nachfolger war Richard Nimmerrichter, damals ein liebenswürdiger Mann.

STANDARD: Aus welchen Erfahrungen heraus begannen Sie überhaupt zu schreiben?

Simmel: Nach den Gesetzen der Nazis war ich ein "Mischling 1. Grades". Mein Vater war Jude und Sozialdemokrat und konnte im März 1938 gerade noch nach England fliehen. Er starb am 4. Jänner 1945, ich habe ihn nie wiedergesehen. Meine Mutter blieb mit mir und meiner Schwester zurück. Alle Angehörigen des Vaters wurden ermordet. Mit 14 Jahren war ich also Oberhaupt einer kleinen Familie.

STANDARD: Zugleich waren Sie selbst bedroht.

Simmel: Ja. Im ersten Bezirk gab es eine wunderbare Buchhändlerin. Bei ihr trafen sich viele Verfolgte. "Was wird mit Halbjuden geschehen?", fragte meine Mutter sie. Nun, sagte ihre Freundin, und nach der vierten Klasse Realgymnasium - ich besuchte das in der Schopenhauerstraße - kann man hinüberwechseln in die Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Chemie in der Rosensteingasse. Also wechselte ich: Zugleich mit der Matura erhielt ich ein Diplom als Chemo-Ingenieur. Als solcher war ich geschützt und kam in eine ausgelagerte Forschungsabteilung nach Meidling.

STANDARD: Welche?

Simmel: Wir sollten auf chemischer Basis eine Stromquelle entwickeln, die so klein wie möglich war und für kurze Zeit große Energiemengen abgab. Das hätten wir leicht geschafft - bis wir hörten, zu welchem Zweck: Die Proto- typen der V1 und V2 des Herrn Werner von Braun waren bei ihren Probeflügen sehr ungenau, torkelten. Mit kleinen Stromstößen wollte man dies korrigieren. Als wir das hörten, da wussten wir: Es würde uns nicht gelingen . . .

STANDARD: Was waren weitere prägende Erlebnisse?

Simmel: Von Widerstandsleuten wurden mit Lichtzeichen den Amerikanern die Lage solcher Abteilungen signalisiert. So legten die Bomber dann einen Teppich von der Philadelphiabrücke bis zur Station Meidling-Hauptstraße. Als der Alarm kam, radelte mein Chef, vorher verständigt, zum Hotel Meissl und Schaden in der Innenstadt, und ich mit. Beim Rückweg nach dem Angriff hatte ich - zwischen Trümmern und Toten - das überwältigende Gefühl: Ich rieche gebratene Hühner! Ich wollte meinem Chef das aber nicht sagen, denn der hätte mich für verrückt gehalten. Aber schließlich sagte er: Ich rieche gebratene Hendln!

Das Haus, in dem wir gearbeitet hatten, war zerstört. Und das Erste, was ich sah, waren rund 50 Hefte der Fackel, die aus einer Wohnung herausgeflogen waren und die ich einsammelte. Und dann schenkte uns ein französischer Zwangsarbeiter zwei Hühner und deutete auf ein freies Feld, wo arme Menschen, unerlaubt, Kaninchen und Hühner züchteten. Auf diese absolut sinnlosen Splittergräben war eine Bombe geflogen, und alle Hühner waren in der Hitze gebraten, ihre Federn waren weg, wir aßen sie.

STANDARD: Und das Kriegsende selbst?

Simmel: Da wurden Menschen für den Bau eines grotesken Ostwalls gesucht, also besonders Zwangsarbeiter und Halbjuden. Als mein Chef erfuhr, dass die Gestapo kam, um mich zu holen, sagte er: "Nimm ein Fahrrad und hau sofort ab!" Ich schaffte es bis zu Meissl und Schaden.

Das Haus gegenüber hatte einen vierstöckigen Keller. Dort lebten eine ehemalige holländische Schönheitskönigin, deren Mann als Häftling in Mauthausen war. Sie sagte höflich: Bitte kommen Sie runter. So erlebte ich das Kriegsende: tief unter der Erde, mit einer sehr seltsamen Gruppe - einem Pfarrer, einem Nazi, Deserteuren, geflohenen Gefangenen und Zwangsarbeitern und jener Schönheitskönigin.

Aus diesem Keller wurde der Schauplatz meines ersten Romans, Mich wundert, dass ich so fröhlich bin. Danach war ich 25 Jahre Reporter und sah unendlich viel Leid, Tod, Elend und Verbrechen.

STANDARD: Mit solchen Erlebnissen hängen Ihre aktuellen politischen Interventionen wohl zusammen, etwa Ihre Rede zur Wehrmachtsausstellung in Wien . . .

Simmel: . . . in der Österreichischen Alpenmilchzentrale, weil keine andere Stelle sich bereit erklärte, sie zu zeigen. Österreich kann sich als "Opfer der Nazis" und "befreite Nation" sehen, denn so haben es die Großen Vier in Jalta bezeichnet. Sie müssen besoffen gewesen sein. Das ist nun für immer die österreichische Lebenslüge. Sonst kann ich zur Politik hier wenig sagen. Aber ich habe kein gutes Gefühl: Ich führte einen Prozess mit Jörg Haider, der mit einem Freispruch für mich endete. Sein Anwalt, mir eng gegenüber, ist jetzt Justizminister.

STANDARD: Doch noch eine Frage zu Ihrem Werk: Sie zitieren zwar z. B. Martin Bubers extrem platonisches Ich und Du, operierten früher aber auch mit Sexszenen. Wie vertragen sich platonische Liebe und Sex?

Simmel: Nicht gut. Darum habe ich das auch bald wieder gelassen. Aber: Liebe braucht der Mensch immer. Ich hatte eine absolut wunderbare Frau, habe sie verlassen, geriet in ein Desaster, und sie verzieh.

STANDARD: Würden Sie also deshalb den Männer anraten, eine Frau besser nicht zu verlassen?

Simmel: Hängt davon ab. Wenn es so eine ist wie meine Lulu, dann darf man sie auf keinen Fall verlassen. Andererseits sehe ich drei Punkte, die gegen eine glückliche Verbindung sprechen. Erstens - wenn man politisch ganz anders denkt. Zweitens - es gibt Menschen ohne jeden Humor. Das funktioniert auch nicht.

Und wissen Sie, was ich noch bemerkt habe? Ich konnte immer nur mit Frauen leben, die eine begeisterte Beziehung zu gutem Essen hatten. Wenn eine Dame nur so herumstochert: Also, das geht dann auch schief.

(DER STANDARD, 2.5.2001)