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Eine Rolle einzustudieren - das ist wie Urlaub von sich selbst nehmen. Etwas verrückter Gedanke. Mag sein. Das Verrückte ist aber ein guter Freund der Wahrheit; außerdem stammt der Gedanke von Neil Shicoff. Sonder Zahl sind ja jene Selbstbeschreibungen des amerikanischen Tenors, mit denen er zu suggerieren versucht, dass er nach einer wichtigen Vorstellung doch einige Tage brauche, um wieder er selbst zu werden. Shicoff - und nicht etwa Offenbachs Hoffmann. Oder Verdis Ernani. Oder eben Benjamin Brittens Kapitän Edward Fairfax Vere. Wenn das alles stimmt, wird es noch eine Weile dauern, bis Shicoff wieder auf jenen Namen, den ihm 1949 sein Vater, ein New Yorker Synagogen-Kantor, gegeben hat, hören wird - und nicht auf Kapitän Vere. Schließlich hat er erst vorgestern zum Staatsopern-Triumph von Billy Budd beigetragen. Und noch gibt es ja einige Folgevorstellungen . . . Mag er in seinen Selbstschilderungen, gerne bei einem guten Glas Wein im Sacher dargelegt, ein wenig dick auftragen und sich allzu sehr in die Pose des Schmerzensmannes und analytischen Selbstzerfleischers werfen, der mitten auf der Bühne schon einmal einen Wein-oder Schreikampf bekommt, so ist Shicoff keinesfalls ein Bluffer. Er hat nur erkannt, dass sein Zugang zur Oper und sein Ruf als "Schwieriger" zur Imagepflege taugen. Shicoff hat jedes Recht. Wer ihn auf der Bühne gesehen hat, der durfte erleben, in welche virtuose Höhen sich gesangsdarstellerische Kunst aufschwingen kann, wenn sie in Shicoffs Kehle liegt. Was Differenzierung und Vertiefung von Opernrollen anlangt, die Verschmelzung von Gesang und Schauspiel, ist der 52-Jährige mit seiner Mischung aus "Wahnsinn und Intensität" (Shicoff) ein Weltmeister der zumeist kontrollierten Selbstentäußerung. Shicoff, der mittlerweile in Wien auch den Titel Kammersänger trägt, zu engagieren ist für jedes Opernhaus längst ein sicherer Weg zum Erfolg. Das war nicht immer so, und nicht unbedingt deshalb, weil Shicoff schlecht gewesen wäre. Eher, weil er gar nicht war. Nicht da war. Oder da war, aber vorzeitig ging. Während die "Musi" noch spielte. Sechsmal ist ihm, der mit 28 an der New Yorker Met in Rigoletto debütierte, das passiert. Shicoff ist nicht stolz drauf, er hat genug gelitten. Längst gilt er aber nicht mehr als unberechenbar - die "selbstzerstörerischen Tendenzen" (Shicoff) hat er seit vielen Jahren gut im Griff. Besonders in Wien, wo er sich vom Staatsopernpublikum jederzeit geliebt fühlt. Wichtig! Andernorts sei es ja oft wie ein Boxkampf. Zwischen Sänger und Publikum. Obwohl: Über Dinge wie Claqueure und Fanclubs, über die macht sich Neil Shicoff nicht so viele Gedanken - "da würde ich noch verrückter werden, als ich ohnedies schon bin". (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14. 2. 2001)