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1. Das futuristische Manifest des Andreas Khol unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht von seinem historischen Vorbild: Erstens bezieht sich seine Huldigung nicht auf das konkrete Tempo neuer Maschinen und die allgemeine Beschleunigung des Lebens, sondern auf das abstrakte Tempo der Regierung, die seinem Anspruch folgend die Opposition täglich an die Wand radelt - etwa dadurch, dass sie Gesetze im Verfassungsrang nicht mit der notwendigen Zweidrittel-mehrheit beschließt, sondern einfach verabschiedet und darauf vertraut, dass der Verfassungsgerichtshof nicht gleich alles zurückwerfen, sondern einiges durchgehen lassen wird. "Ex pluribus unum" heißt "speed kills", aus Khols Englisch in das Latein der ÖVP übersetzt. Zweitens laufen Khols Futuristen - ebenfalls im Gegensatz zu ihren historischen Vorgängern - nicht Gefahr, in den Faschismus abzugleiten. Davor sind sie gefeit, weil Khol selbst vor Jahr und Tag seinem jetzigen Regierungspartner einen Verfassungsbogen in die Hand gedrückt hat, mit dessen Krümmung die gemeinsam Wandelnden die Breite ihres gemeinsamen Weges ausmessen können. 2. Wenn also Khols Ausspruch, dass Geschwindigkeit tötet, weder Ausdruck der Emphase angesichts der schrecklichen Schönheit entfesselter physikalischer Kräfte ist noch ein Verweis auf die inhärente Ästhetik politischen Handelns, die sich darauf gründet - wem oder wozu soll er nützen? Angenommen, der Verfasser wollte bescheiden hinter seinen Satz zurücktreten, drängt sich die Folgerung auf, dass er auf einen Vorgang hinweisen wollte, der uns aufgrund der Brisanz der Formulierung bisher verborgen blieb. Darauf lässt auch Khols Bemühen schließen, sie in "speed wins" umzumünzen: Hier wollte Khol nicht entschärfen, sondern präzisieren. Denn im Tempo der Regierung verschwindet ein Faktum beinahe, das man als Wiedergeburt der ÖVP aus dem Rausch der Geschwindigkeit bezeichnen muss. Diese ist nicht unlogisch angesichts des eher gemäßigten Schrittes, den die ÖVP 14 Jahre lang an der Seite der SPÖ eingeschlagen hat. Endgültig kann der plötzliche Entschluss, vom Passgang in Galopp zu verfallen, die Frage nach dem Grund aber nicht klären: Warum drückt die ÖVP so auf das Tempo, was hat sie zur Erfindung der Schnelligkeit bewegt? Eine mögliche Erklärung könnte, wie so oft in der Politik, im Biografischen liegen. Khols Leben darf hier paradigmatisch für das seiner Partei gefasst werden. Wir sehen die ÖVP also als gläubiges Individuum aus christlich-katholischem Elternhaus, das seine tiefe Einbettung in den Wertekanon der Kirche über die Jahre an der Seite eines atheistischen Partners herübergerettet hat. Nun kommt ihr am Ende einer Lebenskrise der langjährige Gespons abhanden, und in einer Situation des Neubeginns entledigt sie sich nicht, wie man meinen würde, des alten Glaubens, sondern tauscht ihn gegen einen neuen aus. Subtile Katharsis: Die ÖVP hat an die Stelle des heiligen Geistes den der Zeit gesetzt, der sich, um im Volksmund zu sprechen, im "Kampf um Meter und Sekunden" manifestiert. 3. Wer sich in den Sport begibt, kommt darin um. Das verlangt seine Dramaturgie, besonders in Mannschaftssportarten, die Kriegshandlungen imitieren. Bei allen Ballsportarten und im Eishockey geht es im Grunde um die Eroberung von Raum, wobei die Geschwindigkeit eine zentrale Rolle spielt. Zum einen gibt sie als Spielzeit eine Begrenzung vor, innerhalb der sich das Regelwerk und damit die Entwicklung der Handlung erst entfalten kann. Das individuelle Tempo der Spieler entscheidet über Erfolg oder Misserfolg eines Spielzuges: Sieg oder Niederlage hängen also unmittelbar von der Abwicklung komplexer Vorgänge innerhalb einer relativen Zeit ab - es ist nicht notwendig, sie so schnell wie möglich zu erledigen, sondern lediglich schneller als der Gegner: Speed kills. Dass die Politik den Sport selten als Betriebsanleitung übernimmt, sei nur nebenbei erwähnt. Was sie jedoch tut, wie Khols Ausspruch belegt, geht über sprachliche Anleihen weit hinaus. Sie bedient sich seiner Inszenierungsmechanismen und verknüpft sie mehr oder weniger geschickt mit ihren eigenen: Der Bundeskanzler, der sich dem Sieger eines Abfahrtslaufes genussvoll an die medaillengeschmückte Brust wirft, oder die Regierungsriege, die dem siegreichen Fußballteam von der Tribüne zujubelt, sind die einfacheren Muster dieser Inszenierung. Aber auch die wirksamsten, bilden sie doch die letztmögliche Verschmelzung zu einer wirklichen "Nationalmannschaft". Etwas komplizierter wird es, wenn sich die Politik als sportliche Auseinandersetzung zu verstehen beginnt und von den Wählern auch als solche beurteilt werden will. Der Annahme, die verzweigteren Abläufe der Wirklichkeit mit den Regeln einer sportlichen Auseinandersetzung steuern zu können, liegt eine Täuschungsabsicht zugrunde: Sie will dem Zuseher weismachen, dass seine Bedürfnisse durch die rezeptive Teilnahme am gebotenen Spektakel befriedigt werden können. So wird die Schaffung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die auf das größtmögliche Allgemeinwohl unter Wahrung größtmöglicher individueller Entfaltungsmöglichkeiten ausgerichtet sein sollte, von permanentem Eventmarketing abgelöst, das in letzter Konsequenz lediglich auf die Unterhaltung vieler und die Erhaltung weniger hinausläuft. 4. Speed kills - eine physikalische Binsenweisheit: Jedes Tempo bricht irgendwann in sich zusammen, auch das innere einer sportlichen oder politischen Handlung. Jedes Momentum (oder wie die Sportler sagen, der Lauf) endet irgendwann einmal und bringt damit die Bewegung um, in die ein simpler Anstoß die Dinge versetzt hat. Doch anders als im Sport bestimmen in der Politik nicht nur die Spieler, sondern auch die Zuseher, wann es so weit ist. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8.2.2001)