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STANDARD: Die Bundesregierung aus ÖVP und FPÖ hat schon im Jahr 2000 ein sehr restriktives Budget beschlossen. Jetzt haben wir nach dem Reformdialog ein Budgetprogramm, das uns sehr rasch in Richtung eines Nulldefizits bringen soll. Was bedeutet das aus sozialer Sicht? Marin: Es ist offensichtlich, dass nach einem sehr großzügigen Steuersenkungs- und Familienleistungsprogramm und einer seit dem Krieg nie da gewesenen Pensionserhöhung - alles am 1. 1. 2000 in Kraft getreten - Geld knapp ist. Klar ist auch, dass der weitere Ausbau der Familienleistungen - den man wollen kann, und die Regierung hat ganz deutlich gesagt, dass sie das unbedingt will - die Budgetkonsolidierung erschwert oder verlangsamt. Ich habe das so formuliert: Wenn man zugleich auf Gas und Bremse steigt, kommt es zur Schubumkehr beim Fliegen oder zu Schleudereffekten bei anderen Fortbewegungsmitteln. Das macht die Sache sicher schwieriger, wo wir schon jetzt die weltbesten Familienleistungen - was das Geld betrifft - haben. STANDARD: Wie gut sind die Familienleistungen wirklich? Marin: Die indirekten Ausgaben für Familien und Kinder machen nach unseren Berechnungen über 20.000 Schilling monatlich pro Familie mit Kindern aus. Das sind bis zum 18. bzw. 26. Lebensjahr des Kindes zwischen 4,6 und 6,3 Millionen Schilling Förderung pro Familie. Natürlich kann man aus dieser weltbesten Position die Leistungen noch steigern. Wir sprechen uns eher für eine vorherige Überprüfung aus: Welchen Wert an familienpolitisch klaren Zielen möchte man erreichen? Werden diese Ziele durch gegebene Leistungen erreicht? Oder sind durch Umschichtung der gegebenen Mittel bessere Effekte zu erzielen. Man braucht einen klaren Zielkatalog, um sich zu fragen, wie kann man das gegebene Umverteilungsvolumen - indirekt sind ja bis zu 340 Milliarden Schilling im Jahr familienbezogene Leistungen und bis zu 80 bis 100 Milliarden im Jahr direkte Familienleistungen - so einsetzen, dass fest vorgegebene Ziele bestmöglich erreicht werden. Klare Zielvorgaben und Ergebnisüberprüfungen fehlen, ehrlich gesagt, seit langem und weiterhin völlig. STANDARD: Wie kommt es, dass bei einem derartig hohen Transfervolumen trotzdem die schwere finanzielle Belastung des Kindergroßziehens immer noch so deutlich spürbar ist? Marin: Kinder aufzuziehen ist enorm kostspielig, wobei die direkten Kinderkosten einige Millionen pro Kind ausmachen. Die indirekten - die so genannten Opportunitätskosten -, die im Wesentlichen durch den Einkommensausfall bei Frauen entstehen, die die Berufstätigkeit aufgeben oder nicht wieder aufnehmen, sind ein Vielfaches. Wir schätzen, dass dadurch das Lebenseinkommen um bis zu 16 bis 18 Millionen sinken kann. Das kann nicht voll von der Gesellschaft getragen werden. Aber die auch nur teilweise Abgeltung der Opportunitätskosten würde auch ein völlig anderes Prinzip erfordern. Das heißt: Wir müssten eigentlich auch Einkommensersatzleistungen für die Berufsunterbrechung wegen Babypause oder Kindererziehung vorsehen, wie bei Unfall, Krankheit oder Kündigung, gestaffelt nach dem verlorenen und versicherten Erwerbseinkommen. Einkommensausfall vorübergehend unbeschränkt auszugleichen (beispielsweise wie beim Wochengeld nach der Geburt) wäre eine ganz andere Konzeption als die reine Betreuungsleistung fix abzugelten. STANDARD: Ersatz für das Karenzgeld? Marin: Im Augenblick ist das Karenzgeld eine "flat rate" - also eine einkommensunabhängige Leistung. Dadurch werden berufstätige Mütter gegenüber Hausfrauen benachteiligt und Mittelschichtfrauen ganz allgemein. Für Frauen der unteren Einkommensschichten gibt es insgesamt enorme Ausstiegsanreize - die berüchtigten Erwerbslosigkeits- und Armutsfallen. Niedrig-Lohn-Bezieherinnen haben oft sogar negative Einkommenselastizitäten, d. h. einer Frau, die in den Beruf zurückkehrt, bleibt trotz Vollzeiterwerb weniger Geld zur Verfügung als sie haben würde, wenn sie nicht arbeiten würde. STANDARD: Jetzt sind große Teile des Bundesbudgets mit Zweckbindungen verplant. Welchen Spielraum gibt es denn tatsächlich für die finanzielle Seite der Familienpolitik? Marin: Das kommt darauf an, ob sie Kosten- und Kontenwahrheit gelten lassen oder nicht. Wenn die Regierung machen würde, was sie sich vorgenommen hat, nämlich Kostenwahrheit walten zu lassen in Bezug auf die Fonds- und "Töpfchenwirtschaft", dann würde sich herausstellen, dass der Familienlastenausgleichsfond (FLAF) schwer defizitär ist, wenn man ihm auch nur einen Bruchteil der Leistungen zurechnet, die er tatsächlich alimentieren sollte. Nehmen sie etwa die Mitversicherungsleistung für Familienangehörige, die Betreuungspflichten wahrnehmen, oder die beitragsfreien Pensionsleistungen für Hinterbliebene, Waisenpensionen, usw. Das sind zig Milliarden typische familienpolitische Leistungen, die aber dem FLAF gar nicht zugerechnet werden. Daher führt die Gebarung nach der derzeitigen Gesetzeslage dazu, dass der FLAF - in den kommenden Jahren durch rückläufige Geburtenzahlen - fiktive Überschüsse ausweist, wozu sich dann flugs Leute gesellen - das kann ja gar nicht anders sein -, die sofort wunderbare Ideen haben, wie diese vermeintlichen Überschüsse wieder ausgegeben werden können, während in Wirklichkeit, bei nur halbwegs kostengerechter Gebarung, dieser Fonds schwer defizitär wäre. STANDARD: Welche politischen Ziele in der Familienpolitik stehen aus ihrer Sicht vor der Tür? Marin: Die Regierung hat sich klar entschieden, den Familienleistungen hohe Priorität einzuräumen. So geht das Kinderbetreuungsgeld von dem sonst überall vorherrschenden Sozialversicherungsprinzip ab und wird eine von Beiträgen, Einkommen und Bedarf ganz unabhängige Familienleistung. Das kann man machen. Es wird eben eine beitragsseitig teilweise völlig ungedeckte Betreuungsprämie pro Betreuerin, nicht pro Kind. Dann wäre es allerdings fairer, sie über Steuern zu finanzieren und nicht aus Dienstgeberbeiträgen bzw. von ArbeitnehmerInnen. Im Grunde läuft das auf eine pauschale Erhöhung der Familienbeihilfe bis zum dritten Lebensjahr des Kindes hinaus und eliminiert die Idee, Eltern ihre beruflichen und einkommensmäßigen Benachteiligungen abzugelten oder abzuschwächen. STANDARD: Was ergibt sich daraus? Marin: Zwei Effekte sind absehbar: ein massiver Nachteil für berufsorientierte Mütter der Mittelschicht gegenüber Hausfrauen und ein relativer Nachteil von Mittelschicht-Frauen generell gegenüber Niedriglohnbezieherinnen, für die ihrerseits die Versuchung, das Erwerbsleben ganz aufzugeben, noch stärker werden könnte. So könnte der Niedriglohnsektor im Arbeitsmarkt austrocknen, der Zuwanderungsbedarf steigen. Wir würden in wenigen Jahren kaum noch jüngere Niedriglohnbezieherinnen finden, die bereit sind zu arbeiten. Längerfristig halte ich es für sozial sehr problematisch, dass für die gebildeteren Schichten das Kinderkriegen und -aufziehen sehr viel unattraktiver gemacht wird als für benachteiligte Schichten. STANDARD: Was ist wirklich an Familienleistungen finanzierbar? Marin: In der ursprünglichen Variante hätte der Kinderbetreungsscheck bis zu 44 Milliarden gekostet, das Karenzgeld für alle kaum eine Milliarde mehr als zuvor (8,8 Mrd.). Jetzt scheint für die letzte uns verfügbare Variante des Kinderbetreuungsgeldes, wie es jetzt heißt, eine Kostensteigerung von 48 bis 128 Prozent auf bis zu 20 Milliarden (ohne Zuverdienstgrenzen) zu erwarten, trotz reduzierter Krankenversicherungsbeiträge. STANDARD: Woher kommt die hohe Differenz? Marin: Heute weiß noch niemand, ob es Einkommenszuverdienstgrenzen geben wird und wenn, in welcher Höhe. Ein Szenario ist: Die Karenzdauer wird auf zwei Jahre für einen Partner plus ein Jahr für den anderen verlängert, was in der Regel der Mann ist. Bei heutigen Zuverdienstgrenzen blieben wir bei rund 13 Milliarden. Gibt es jedoch keine Zuverdienstgrenzen, auch nicht für Männer, dann kann man davon ausgehen, dass das jeder - auch jeder Mann, der sich nie um sein Kind kümmert - zu 100 Prozent in Anspruch nehmen wird, und dann werden wir nach unseren Berechnungen auf etwa 20 Milliarden kommen - immer vorausgesetzt, die Geburten fallen weiter statt wie erwünscht zu steigen. Im "Erfolgsfall" Babyboom wäre die Politik eine Budgetrakete durchs Dach. STANDARD: Die Vorgängerregierung hat versucht, durch einen Ausbau der Förderung für Kinderbetreuungseinrichtungen, bessere Grundlagen für die Berufstätigkeit beider Elternteile zu schaffen. Das ist ja damals schon nicht geglückt, weil die Gebietskörperschaften darauf nicht eingestiegen sind. Wie ist die Situation jetzt? Marin: Die außerfamiliäre Kinderbetreuung würde, bundesweit auf städtischem Niveau, auf der Kostenbasis 1998/1999 etwa 23 Milliarden Schilling, ca. zwölf Mrd. mehr als der Status quo, kosten, also auch sehr teuer kommen. Weiters wurde die Frage der Besteuerung familienrelevanter Transfers diskutiert, aber schon im Vorfeld wieder fallen gelassen. Das hätte dem Finanzminister sieben bis zehn Milliarden Schilling bringen können oder, sinnvoller, aufkommensneutral eine Anhebung der Familien bei Hilfen für die ärmeren Familien, also die, die es besonders brauchen, um bis zu 27 Prozent erlaubt. Doch die Einkommensprüfung der Familienbeihilfen hätte auch sehr problematische Aspekte gehabt. International auffallend ist auch, dass wir Kinderbeihilfen für Erwachsene bis zum 26. Lebensjahr zahlen - das gibt es nirgendwo außer in Deutschland. Nicht zufällig ist in Deutschland und Österreich die Studiendauer bei weitem am längsten. Familienbeihilfe und Kinderabsetzbeträge für Volljährige kosten über 5,1 Milliarden Schilling jährlich, unsere Mehrkind-und Altersstaffelung von Familienleistungen 5,4 Mrd. Mehrausgaben, der Alleinverdienerabsetzbetrag 4,5 Mrd., FLAF-Mindereinnahmen bei Selbstständigen und Beamten fünf bis sechs Mrd., die beitragsfreie Mitversicherung zweistellige Milliarden Mehrkosten, alles ohne überprüfte Treffsicherheit. Ich glaube, die Regierung hat sich klar entschieden, den Familienleistungen hohe Priorität einzuräumen. (DER STANDARD, Printausgabe 5.1.2000)