Sollten die Bestimmungen des gescheiterten Lissabonner Vertrages der EU tatsächlich den Stellenwert eingenommen haben, den ihm seine Autoren zuordneten, nämlich eine Art europäisches Grundgesetz zu bilden, dann wären Volksabstimmungen von allem Anfang an demokratische Mindestnorm gewesen. Von wem sollte denn die Macht in einer erneuerten EU ausgehen, wenn nicht vom Volk?
Sich solches ausgerechnet von Hernn Dichand sagen lassen zu müssen stellt für sich genommen schon eine Groteske dar. Trotzdem will über die durch Faymann und Gusenbauer – post festum – geschaffene neue Lage auch unter vielen Befürwortern einer Volksabstimmung keine wirkliche Freude aufkommen.
Unbewusst wahrgesprochen hat übrigens die Fellner-Zeitung Österreich, als sie die allgemeine Wertung der Wende, die die neue SPÖ-Spitze vollzogen hat, auf die Formel brachte: "Gusenbauer setzt Anti-EU-Kurs in der SPÖ durch." Man fragt sich, wie wenig überzeugt das politische und mediale Establishment von den eigenen Projekten sein muss, wenn schon die vage Aussicht auf Volksabstimmungen als "Anti-EU-Kurs" interpretiert wird.
Neoliberaler "Sachzwang"?
Bislang läuft das Spiel ja so: Um die grenzenlosen Freiheiten des Kapitals und die damit verbundenen sozialpolitischen Verschlechterungen der innenpolitischen Kritik zu entziehen, werden sie vornehmlich über Brüssel durchgesetzt. Das nimmt zeitweise Druck von den innenpolitischen Akteuren, führt aber dazu, dass die Zustimmungsraten zur Europäischen Union kontinentweit in den Keller rasseln. Dass es vornehmlich rechte und populistische Parteien sind, die den so provozierten Unmut erfolgreich in ein nationalistisches, fremdenfeindliches Programm einbauen, wird zwar offiziellerseits bedauert, gehört aber zu diesem Spiel ebenso wie der europaweite Niedergang der sozialdemokratischen Parteien. Dieser holt die eigene Politik ein, den Neoliberalismus in der EU als alternativlosen Sachzwang akzeptiert zu haben.
Gusenbauers und Faymanns Schachzug entbehrt daher nicht einer bestimmten Logik: Warum sollten sie ein Spiel mitmachen, bei dem sie nur immer weiter verlieren können?
Doch gibt es auch eine andere Seite. Einst war die Sozialdemokratie ausgezogen, das "Proletariat mit dem Bewusstsein seiner Lage zu erfüllen" . Heute neigt sie dem Gegenteil zu. Die Gründe für eine linksakzentuierte, sozialpolitische Kritik an der EU liegen auf der Straße: Die von den Arbeitsministern ausgehandelte Richtlinie, die eine Ausdehung der Wochenarbeitszeit auf 65 Stunden ermöglichen soll, die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofes, in denen nationalstaatliches Kollektivvertrags- und Arbeitsrecht aufgehoben wird, die durch die Lissabonner Strategie forcierte Präkarisierung der Arbeitswelt, die als "Friedensmissionen" drapierten Kolonialabenteuer im Tschad und in Afghanistan, um nur einige zu nennen. Selbst der sozialdemokratisch geführte Europäische Gewerkschaftsbund ruft für Anfang Oktober zu Protestaktionen gegen die unsoziale Politik der EU auf.
Der Weg, den Gusenbauer und Faymann wählten, ihren Schwenk mitzuteilen, ist auch in dieser Hinsicht symbolisch zu nennen. Nicht die von Gewerkschaften und europäischen Linken formulierten Kritiken bilden seinen Ausgangspunkt, sondern die weichen Knie vor der nationalistischen Kampagne der größten Boulevardzeitung.
Seltsame "Genossen"
Um Letztere zu bedienen, wird daher just ein möglicher EU-Beitritt der Türkei als möglicher Anlass für ein Referendum genannt. So, als ob heute die Arbeitsmärkte nicht weit eher durch deregulierte Kapitalabwanderung in Billiglohnländer als durch Einwanderung von Arbeitskraft unter Druck gerieten. Strache und Haider lassen grüßen.