Geschwisterliche und andere Gegensätze: Riccardo Scarmacio (li.) und Elio Germano in "Mein Bruder ist ein Einzelkind".

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Wien - Die Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit ist als geheiligtes Modell und exemplarische Angriffsfläche für politische Systeme und religiöse Lehren gleichermaßen attraktiv. Umgekehrt zieht man den Mikrokosmos "Vater-Mutter-Kinder" auch gerne immer dann heran, wenn es gilt, größere gesellschaftspolitische Zusammenhänge in handlicher Weise darzustellen.

Nicht zuletzt im Kino: Mein Bruder ist ein Einzelkind/Mio fratello è figlio unico von Daniele Luchetti zum Beispiel erzählt eine Geschichte vom Erwachsenwerden, eine Familiengeschichte und ein Stück Politgeschichte Italiens. Das erinnert nicht von ungefähr an Marco Tullio Giordanas monumentale Chronik La meglio gioventú _– wie dort wird auch bei Luchetti, der sich wiederum auf den autobiografisch gefärbten Roman Il fasciocomunista von Antonio Pennacchi berufen kann, der zentrale Gegensatz zwischen rechter und linker Ideologie anhand zweier ungleicher Brüder verhandelt.

Aber vielleicht ist man in Italien auch nur seit Romulus und Remus einschlägig vorbelastet. 1962 jedenfalls kommt der Teenager Accio ins Priesterseminar. Er hat einen Hang zu dramatischen Gesten und eine eigentümliche Lust daran, sich strengen Regeln zu unterwerfen. Dem göttlichen Schöpfer bei strömendem Regen die eigene Gesundheit zu überantworten, wenn dieser dafür die Kommunisten gläubig macht, das übersteigt allerdings sogar das Anforderungsprofil der katholischen Knabenschule.

Gegensatzpaar

Wenig später wird Accio dafür von einem väterlichen Freund mit den Leistungen des Duce bekannt gemacht. Der jüngste Sohn einer Arbeiterfamilie schließt sich den Neofaschisten an, während sein älterer Bruder Manrico und seine Schwester Violetta Teil der linken Studentenbewegung werden. Die Brüder bleiben einander jedoch verbunden, über alle Gegensätze hinweg und trotz der Tatsache, dass sich auch Accio in Manricos Freundin Francesca verliebt.

1962 ist auch für den zwölfjährigen Norbi ein bedeutsames Jahr. Er erlebt es in Pol Cruchtens Kleine Geheimnisse/Perl oder Pica in seinem Heimatstädtchen in Luxemburg, als Sohn eines strengen katholischen Kaufmannes, der das Rohrstöckchen immer griffbereit am Küchenschrank bereithält und sich damit doch nur ungenügend gegen seine väterlichen Ängste wappnen kann. Norbis ältere Schwester Josette hat bereits ein Bild von John F. Kennedy am Nachttisch. Die neuen Zeiten und die Emanzipation der Kinder vom Elternhaus sind kaum noch aufzuhalten.

Nebenbei lernt auch der Nicht-Luxemburger, dass man die einheimischen Kollaborateure während der deutschen Besatzung wegen ihrer gelben Uniformen "Gielemännchen" nannte und dass nach Kriegsende über die jüngste Vergangenheit kaum offen geredet wurde. Das wirkt ein wenig wie bestellt. Umso mehr, als Kleine Geheimnisse (ebenso wie Mein Bruder ist ein Einzelkind) in Bezug auf die Protagonisten differenzierter und ambivalenter bleibt, als es manches schablonenhafte Handlungselement aus dem Coming-of-Age-Fundus vermuten ließe.

Die beiden Filme, die nun zufällig gleichzeitig in die österreichischen Kinos kommen, haben über Familien nämlich durchaus Interessantes zu sagen. Über Politik jedoch eher wenig. Nur ganz am Rande, wenn es um den fortschreitenden Verfall eines Wohnhauses geht, um Verschleppung von Verbesserungsmaßnahmen und Veruntreuung von Wahlversprechen und Wählereinlagen, um zivilen Ungehorsam und Selbstermächtigung, dann wird bei Luchetti kurz sichtbar, wie eine Geschichte über die politische Verfasstheit eines Landes auch aussehen könnte. (Isabella Reicher/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4. 6. 2008)