Foto: Christina Schwann/www.via-alpina.org
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Die Via Alpina ist kein Pilgerweg, sondern ein europäisches Projekt im Rahmen der Alpenkonvention, das von Triest bis Monaco nationale Grenzen überwindet.

Foto: Christina Schwann/www.via-alpina.org
Zuerst war es ein Jahr, dann waren es Monate, und selbst als es nur noch wenige Wochen bis zum Weggehen waren, schien die Zeit noch lang. Doch irgendwann waren es nur noch Tage. Neun Tage, sechs Tage, fünf Tage, und plötzlich mussten all die letzten Erledigungen schnell gehen. Beim Outdoor-Händler war der Schlafsack noch abzuholen, die Frage nach Gamaschen war immer noch ungeklärt, die Reservebatterien für die Stirnlampe und der Reserveakku für das neue Multifunktions-Handy fehlten noch - genauso wie ein in der Länge verstellbarer Regenponcho und auch die Geschichte dieses Reisebeginns fürs RONDO.

Wenigstens die Strecken-Recherche war einigermaßen abgeschlossen, und die knapp zweihundert Seiten lange Word-Datei musste nur noch auf den Communicator geladen werden. Während die fast sechzig 50.000er-Wanderkarten bei Freytag & Berndt am Kohlmarkt zwar bereitlagen, ihnen aber noch radikal mit der Schere zu Leibe gerückt werden musste, um unterwegs die Route in handlichen Ausschnitten ablesen zu können und nicht jedes zweite Mal in Wetterfahnen aus Papier eingewickelt zu werden.

Nur noch ein paar Tage - so versuchte ich mir in dieser letzten Woche immer wieder den Beginn dieser Fußreise durch die Alpen vorzustellen -, nur noch wenige Tage, dann werde ich am Hafen von Muggia, Trieste, stehen. Aber kein Schiff wird mich stampfend von den Hafenmauern und der immer kleiner werdenden Freundin trennen, nicht einmal ein langsam aus einem Bahnhof abfahrender Zug. Die eigenen Beine werden es sein, die dann an der Piazza Marconi von H. weggehen, vorbei am Dom, hinauf zum Castello und zur Wallfahrtskirche, die dort oben zum Schutz der Seefahrer steht, doch nicht zu meinem.

Die eigenen Beine und ein Vorhaben, das mir seit einem Sommerabend im Jahr 2005 beständig durch den Kopf geht: "Der rote Weg", die längste der fünf Routen der Via Alpina - eine von Triest über den Alpenbogen nach Monaco führende, knapp 2500 Kilometer lange Strecke. An den Abend, an dem ich sie entdeckte, erinnere ich mich gut. Es war nach einem heißen Tag, die Fenster standen offen, draußen war es bereits finster. Am nahen Platz spielten Kinder, und ich trank eine Flasche Weißwein, dessen Würze mir schon allein deshalb bis heute in Erinnerung ist, da sie mich an die Beschreibung eines Weins in einem Maigret-Roman Simenons denken ließ.

Und ich war guter Dinge. Denn zu diesem Zeitpunkt glaubte ich noch, mit meinem dritten Buch nach zwei Jahren Arbeit endlich fertig geworden zu sein, und schaute mich im Internet nach Urlaubsorten in Süditalien um - ganz bestimmt jedoch nicht nach Weitwanderrouten, obwohl mich als Ausdauersportler lange Strecken natürlich reizen - nicht aber die jener in den letzten Jahren in Mode gekommenen Weitwander-Selbsterfahrungstrips. Viel zu bieder, fast traurig wirken all die Charity-Radler-rund-um-die-Welt oder der x-te in der Midlife-Crisis angekommene Jakobsweg-Geher auf mich. Während das geherische Unmaß eines Robert Walser mich gerade in der Selbstverständlichkeit, mit der seine Strecken regelrecht in kulinarischer Genugtuung mündeten, immer faszinierte: "Einmal wanderte ich um zwei Uhr nachts von Bern nach Thun, wo ich am Morgen um sechs ankam. Mittags war ich auf dem Niesen, wo ich vergnügt ein Stück Brot und eine Büchse Sardinen vertilgte. Abends war ich wieder in Thun und um Mitternacht in Bern; natürlich alles zu Fuß." - Ebenso wie er "natürlich" nie nur Wasser getrunken hat.

Die Via Alpina, ein europäisches Projekt im Rahmen der Alpenkonvention, deren aus fünf Weitwanderrouten bestehendes Wegesystem auf gut 5000 Kilometern die Alltagswelt Alpenraum durchmisst, unterscheidet sich jedoch bereits auf den ersten Blick von all den derzeit so boomenden Strecken esoterischer oder pseudoreligiöser Alltagsflucht. Denn die Routen der Via Alpina führen nicht aus der Gegenwart hinaus, sondern mitten in sie, in die Schmerzpunkte heutiger Gegenwart hinein. Ganz gleich, ob es sich dabei um das Verhältnis Mensch-Umwelt oder Arbeit-Freizeit handelt, um die Beziehungen zwischen Stadt und Land bzw. den Agrargebieten des Flachlands und denen der Berge.

All das scheint in den Alpen deutlicher als sonst wo zu Tage zu treten, als wäre der Gebirgszug mehr ein laut schallender Echoraum denn ein still aufzeichnender Seismograf. Und so meint man oft, es reiche, aus der Entfernung nur kurz auf sie hinzuschauen, um mit der nächsten Naturkatastrophen- oder Umweltschutz-Schlagzeile bereits alles gesagt zu haben. Dabei zeigt allein ein Flug von Zürich nach Wien oder Mailand nach München, dass der Alpenraum um vieles weitläufiger und menschenleerer ist, als es Daten veranschaulichen, die ihn mit 13 Prozent des Welttourismus als größtes Fremdenverkehrsgebiet der Erde ausweisen (vgl. dazu vor allem Werner Bätzing, der in seinem Standardwerk "Die Alpen" nachweist, dass der Tourismus in den Alpen weder ein flächenhaftes Phänomen noch eine dominante Wirtschaftskraft darstellt). Fremd und unnahbar erscheint der Alpenbogen in solchen Augenblicken, ein unentdeckter Kontinent mitten in Europa, und ist doch, allein anhand seiner von jeher die Staatengrenzen überlappenden National- und Regionalsprachen, europäischer als jede andere Großregion.

Gleichzeitig aber sind die Alpen Projektionsmagnet höchst unterschiedlicher Bilder und Vorstellungen. Bereits die Römer pflegten das Klischee der "montes horribiles" selbst nach längst erfolgter agrarischer Erschließung unverdrossen weiter. Ein Bild, das seitdem nur von anderen Stereotypen wie etwa dem des "Schrecklich-Schönen" abgelöst wurde. So ist es gerade heute, da angesichts der Bedrohungsszenarien möglicher Umweltkatastrophen die "schrecklichen Berge" wieder in den Schlagzeilen auftauchen, womöglich notwendiger denn je, Genaueres und Vielfältigeres über den Alpenraum zu erzählen. Zum Beispiel auf einer Fußreise, mit Rucksack, Notizbuch und Zelt: der Witterung genauso ausgesetzt wie der Beschaffenheit von Steigen, Wegen und Böden.

Auf einer Route wie dem "Roten Weg" der Via Alpina unterwegs, die auf ihren 161 Tagesetappen allein anhand von 44 Überquerungen nationaler Grenzen die Willkürlichkeit derartiger staatlicher Trennlinien erzählt - um dabei in der Langsamkeit des Zu-Fuß-Gehens, des Haltmachens und zufälliger Begegnungen Geschichten aus dem Lebens- und Arbeitsalltag der oft talweise ganz unterschiedlichen Orte und Gegenden zu finden, am Schutzhütten- oder Bauernstubentisch etwa, wie man sie womöglich nur dann zu hören bekommt, wenn man im Austausch ebenfalls etwas zu berichten hat: gerade wenn das im Grunde nicht mehr ist als das, wofür man in Wirklichkeit gar keine Weitwanderwege braucht - als Antwort auf die Frage, woher man kommt und wohin man geht. Allein sich daran zu erinnern ist den Umweg einer solchen Reise wert. (Martin Prinz/DER STANDARD/RONDO/16.5.2008)