Der Wissenschaftshistoriker Robert Proctor, Experte zum Thema Nichtwissen, ist ein scharfer Kritiker der Tabakindustrie.

Foto: Stanford
Der Tabakindustrie wird vorgeworfen, Alibiforschung finanziert zu haben, die die Gefahren des Rauchens verschleiert hat. Wissenschaftshistoriker Robert Proctor erklärte Oliver Hochadel, wie mit Forschung gezielt Nichtwissen produziert wurde.

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STANDARD: Was halten Sie vom Kompromiss, in österreichischen Lokalen Raucher und Nichtraucher zu trennen und auf ein generelles Rauchverbot zu verzichten?

Proctor: Ein fauler Kompromiss. Das wird teuer für die Lokalbesitzer und bringt für die Gesundheit nichts. Viele Länder wie Irland oder Italien haben sich zu einem Rauchverbot in Lokalen durchgerungen, warum kann man das in Österreich nicht?

STANDARD: Sie haben gezeigt, dass deutsche Mediziner schon Ende der Dreißigerjahre bewiesen, dass Rauchen zu Lungenkrebs führt. Warum brauchen so wichtige Erkenntnisse so lange, um anerkannt zu werden?

Proctor: Das Thema ist damals in einer ideologischen Lücke gelandet. Rauchen ist krebserregend, das wussten schon die Nazis. Das war aber für Gesundheitsaktivisten kein brauchbares Argument. Und die USA interessierten sich nach 1945 nur für die militärisch verwertbaren Aspekte der NS-Wissenschaft. Die Krebsforschung gehörte leider nicht dazu.

STANDARD: Dennoch formte sich auch in den USA Mitte der Fünfzigerjahre ein wissenschaftlicher Konsens, wonach Rauchen zu Lungenkrebs führt.

Proctor: Die Tabakkonzerne waren alarmiert. Während sie in offiziellen Stellungnahmen immer wieder betonten, dass sie "nie ein Produkt herstellen und vertreiben werden, von dem gezeigt wird, dass es Ursache für Krankheiten ist", starteten sie gleichzeitig eine der erfolgreichsten Betrugskampagnen der Moderne.

STANDARD: Welche Rolle spielte die Wissenschaft dabei?

Proctor: Die Konzerne gründeten das Council for Tobacco Research und investierten hunderte Millionen Dollar. Chemiker und Mediziner erforschten die Gefahren des Rauchens - vermeintlich. Sie fanden alle möglichen Ursachen für Lungenkrebs: Erbanlagen, Viren, Luftverschmutzung, selbst Vogelhaltung, außer eben Tabak.

STANDARD: Und die beteiligten Forscher ließen sich Ihrer Meinung nach kaufen?

Proctor: Ja, ihre Arbeit diente einzig und allein dem Zweck, Zeit zu schinden, um weiter möglichst viele Zigaretten verkaufen zu können. Die Tabakindustrie warnte vor vermeintlich vorschnellen Schlussfolgerungen und versuchte, den Eindruck zu erwecken, es gebe noch eine Kontroverse um die Gefahren des Rauchens.

STANDARD: Gibt es für diese Doppelstrategie Belege?

Proctor: Interne Dokumente zeigen, dass absichtlich und systematisch Nichtwissen erzeugt wurde. "Zweifel ist unser Produkt" heißt es etwa in einem Memo der Brown & Williamson Tobacco Company aus dem Jahre 1969. Ohne diese Jahrzehnte währende Verzögerungstaktik wären die Raucherzahlen nie so stark gestiegen beziehungsweise schneller gefallen. Allein in den USA sterben laut Schätzungen des U.S. Surgeon General pro Jahr 400.000 Menschen an den Folgen des Rauchens.

STANDARD: Das klingt alles sehr zynisch.

Proctor: Ja, aber Aussteiger wie William Ferrone, die früher für die Tabakindustrie gearbeitet haben, bestätigen das. Die Tabakleute sagen: Wenn die Leute dumm genug sind. Oder: Wenn wir es nicht tun, tun es andere. Oder: Wir sind nur Teil einer großen Maschinerie. Oder: Tabak ist ein Produkt, der Einzelne muss das Recht haben, es zu wählen.

STANDARD: Dennoch wurde die Tabakindustrie 1998 zu 300 Milliarden Dollar Schadenersatz verurteilt.

Proctor: Das heißt aber nur, dass sie das in den nächsten Jahrzehnten auf den Tabakpreis aufschlägt. Die Tabakindustrie schwimmt nach wie vor im Geld und hat sich in Asien längst einen neuen Markt erschlossen. Laut WHO sterben allein in China etwa 1,2 Millionen Menschen pro Jahr an den Folgen des Rauchens, ein Drittel an Lungenkrebs und zwei Drittel an Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

STANDARD: Ist die chinesische Politik nicht alarmiert?

Proctor: Die Gesundheitspolitiker schon, aber das Finanzministerium ist stärker, denn die Steuereinnahmen durch Zigaretten sind enorm. Ich nenne das die zweite Abhängigkeit.

STANDARD: In den Vereinigten Staaten laufen nach wie vor Entschädigungsprozesse.

Proctor: Dabei geht es um die Frage, ob die Tabakindustrie die Gefahren des Rauches verschleiert hat. So schizophren das klingt: sie behauptet, jeder Raucher hätte um das Risiko gewusst, aber es gab keinen Beweis. Dabei beruft sich die Industrie auf ihre Alibiforschung: Man habe sich vergeblich um einen Nachweis bemüht. Der Raucher ist selbst schuld.

STANDARD: Bei diesen Prozessen sagen Historiker als Gutachter aus?

Proctor: Ja, Ich konnte etwa drei Dutzend Medizinhistoriker identifizieren, die die Tabakindustrie immer wieder mit lukrativen Verträgen als Sachverständige verpflichtet hat. Ihre Gutachten und Aussagen bei Gericht sind voller Verzerrungen und Auslassungen. Wenn es um die Schuldfrage geht, argumentieren sie: Geschichte sei eben kompliziert oder "unordentlich" und könne nicht vom Standpunkt der Gegenwart aus beurteilt werden.

STANDARD: Wie hat die Tabakindustrie auf Sie reagiert?

Proctor: Ich habe eine Anfrage von einer ihrer Anwaltskanzleien bekommen. Meine Antwort bestand nur aus sieben Worten: "Ich arbeite nicht für Händler des Todes." Ich bin seit zehn Jahren als Sachverständiger aufseiten der Anklage.

STANDARD: Was sollte die Tabakindustrie Ihrer Meinung nach tun?

Proctor: Diese Diskussion wurde schon geführt, die Alternativen hießen Herakles-Projekt oder Atlas-Projekt. Herakles hätte ein Aufräumen vorgesehen, und etwa eine Umstellung auf Lebensmittelproduktion oder Biotechnologie. Man kann ja auf viele Arten Geld verdienen. Die Tabakindustrie hat sich aber für Atlas entschieden: so weitermachen und die Last aushalten. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.5.2008)