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Jo Groebel: "Erst wenn sich andere Ereignisse in den Vordergrund schieben, ist Amstetten nicht mehr Synonym für das Grauen"

Foto: AP
"Also, das ist schon arg, was ihr Österreicher da in euren Kellern so treibt." Die Bedienung im Berliner Café schwankt zwischen Empörung und wohligem Gruseln. Und auch der Taxifahrer wenig später kommt gleich zur Sache: "Ich verstehe das nicht. Da habt ihr so schöne Berge in eurem Land - und so hässliche Keller."

Österreich, das Land des Grauens, in dem Kinder jahrelang in Keller gepfercht werden. In Deutschland widmen vor allem die Boulevardmedien der Berichterstattung aus Amstetten breiten Raum und vergessen dabei auch nicht Natascha Kampusch und ihr Kellerverlies in Strasshof. "Das Verlies des Grauens", titelt die Bild-Zeitung. "Im Kerker des Inzest-Teufels" war Schlagzeile des Berliner Kurier.

Dass bei diesen beiden Fällen Parallelen gezogen werden, wundert Jo Groebel, den Direktor des Deutschen Digital Instituts in Berlin, nicht. "Menschen suchen in extremen Ausnahmesituationen immer nach Erklärungen, um das Absonderliche zu begreifen", sagt der Medienpsychologe zum STANDARD.

"Völlig absurd, ja nahezu sträflich"

Es sei jedoch "völlig absurd, ja nahezu sträflich", wegen dieser beiden Extremfälle das ganze Land, vor allem ein Bundesland, pauschal als "Horrorland" abzustempeln. "Dass sich diese beiden Tragödien in Niederösterreich ereignet haben, ist ein reiner Zufall, wie er gelegentlich statistisch vorkommt, es gibt aber überhaupt keinen Beleg für eine Kausalität der beiden Fälle", sagt Groebel. Dafür spreche schon allein der zeitliche Ablauf. Kampusch wurde im Jahr 1998 entführt. Zu diesem Zeitpunkt lebte Elisabeth F. bereits 14 Jahre lang im Amstettener Kellerverlies.

Die Sorge vieler Österreicher, dass ihr Land nach diesen zwei aufsehenerregenden Fällen nun stigmatisiert werde wie einst Belgien durch den Fall Marc Dutroux, versteht Groebel. Doch er meint: "Ich sehe keinen Dutroux-Effekt in Österreich." Belgien leidet noch heute unter dem spektakulären Kriminalfall des Kinderschänders Dutroux, der in den 90er-Jahren mehrere junge Mädchen entführte und in ein Kellerverlies sperrte. Vier der Mädchen überlebten dies nicht.

So erinnert Het Nieuwsblad, eine Tageszeitung in Belgien, nun auch bei der Berichterstattung über Amstetten an den "Schatten von Dutroux". Und die Zeitung Het Laatste Nieuws fragt: "Was stimmt nicht mit den Österreichern?"

Entscheidender Unterschied

Zwar erinnere man sich auch beim Namen Dutroux an Kinder in Kellerverliesen, meint Groebel. Doch es gebe einen entscheidenden Unterschied zu den Geschehnissen in Österreich: "Bei Dutroux handelte es sich um organisierte Kriminalität, es steckte ein ganzes Netzwerk dahinter, dessen Aufdeckung das Land erschütterte", sagt Groebel über Belgiens Trauma. Auch seien im In- und Ausland damals die vielen Justizpannen registriert worden. Deren Tiefpunkt wurde 1998 erreicht, als es dem inhaftierten Dutroux kurzzeitig gelang zu fliehen. Schließlich trieben diese Pannen Millionen Menschen auf die Straße, wo sie gegen die Missstände im politischen und im Justizsystem protestierten.

Und dennoch: Eines wird auch den Bewohnern von Amstetten nicht erspart bleiben: dass der Name der Stadt international noch lange allein mit dem Verlies und den schrecklichen Geschehnissen in Verbindung gebracht wird. Derartig negative Assoziationen haben auch schon die Einwohner deutscher Städte verkraften müssen.

Amoklauf in Erfurt

So war Erfurt jahrelang Synonym für den "Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium". 2002 hatte der damals 19-jährige Robert Steinhäuser in der Landeshauptstadt von Thüringen zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten erschossen und anschließend sich selbst getötet. Der Fan von "Killer-Spielen" am Computer war zuvor von der Schule verwiesen worden. In Deutschland löste der Fall eine massive Debatte über Computerspiele aus, außerdem wurde das Waffenrecht so verschärft, dass Jugendlichen der Zugang zu Waffen erschwert wurde.

Auch das ostdeutsche Rostock litt jahrelang an einem Verbrechen. 1992 griffen Rechtsextreme ein Asylbewerberheim an. Die Polizei bekam die Lage nicht in den Griff, zumal rund 3000 Bürger den Rechten applaudierten und sie anfeuerten. Es waren die schwersten Ausschreitungen von Deutschen gegen Ausländer in der deutschen Nachkriegsgeschichte; noch Jahre danach assoziierte man den Namen der Stadt Rostock mit diesen Randalen.

Für Amstetten hat Groebel daher nur einen schwachen Trost: "Erst wenn sich andere Ereignisse in den Vordergrund schieben, ist Amstetten nicht mehr Synonym für das Grauen. Aber das wird noch lange dauern." (Birgit Baumann aus Berlin/DER STANDARD-Printausgabe, 30.04./1.5.2008)