STANDARD: Von dem Fall ist bisher bekannt, dass eine 42-jährige Frau 24 Jahre lang von ihrem Vater im Keller eingesperrt gewesen sein soll. Sie soll sieben Kinder mit ihm haben. Was bedeutet es für einen Menschen, so lange eingesperrt zu werden? Kann er danach jemals ein halbwegs normales Leben führen?.

Wintersperger: Das klingt nach einem Horrorkabinett. Man muss hier schauen, was überhaupt los ist und in welchem Zustand die Frau ist. Wurde sie gequält und misshandelt? Von welcher Art ist die Traumatisierung? Gab es körperliche und sexuelle Quälereien, abgesehen vom Freiheitsentzug, waren andere auch beteiligt? Wenn man 24 Jahre gegen seinen Willen festgehalten wird, ist das immer ein Horror. Welche Folgen es hat, das kann man nur an der Person sehen. Hier stellen sich einige Fragen: Was war das Motiv des Vaters, wo war die Mutter, warum ist das nicht aufgefallen, wie war das Verhältnis zu den Eltern vorher?

STANDARD: Macht es einen Unterschied, ob so etwas in der Familie passiert, oder ob jemandem von außen Schaden zufügt?

Wintersperger: Einen gravierenden. Wenn der Täter eine primäre Bindungsperson ist, dann macht es die Sache viel schwieriger.

STANDARD: Das macht wohl auch die Aufarbeitung schwieriger.

Wintersperger: Sehr viel schwieriger. Vater und Mutter sind die ersten Bezugspersonen, die für das Kind das Bild der Welt darstellen. Die ersten Beziehungen sind die prägendsten für das Leben. Wenn es darin Misshandlung, Missbrauch, Täuschung und Doppelbödigkeit gibt, dann ist das mitunter ein unlösbares Durcheinander. Wenn hingegen ein Mensch ein gefestigtes Innenleben hat, in dem es so etwas wie erlebtes Vertrauen und Zuneigung gibt, dann macht das eine Festigkeit aus, die eine hohe Resistenz gegenüber Misshandlungen aller Art hinterlässt.

STANDARD: Wenn man also Geborgenheit erlebt hat ...

Wintersperger: Wenn man das einmal erlebt hat und es verinnerlichen konnte, dann ist das der beste Schutz für alles, was das Leben später einmal bringt. Untersuchungen zeigen, dass zum Beispiel Menschen, die KZ-Haft psychisch überlebt haben, häufig die Menschen waren, die eine gute Innenwelt mitgebracht haben. Die wussten, wo oben und unten, was gut und was böse ist. Wenn ein Kind mit verräterischen Strukturen, Gewalt und Lügen aufwachsen muss, dann kann es keine normalen Strukturen entwickeln, die ihm irgendeine Form von Basishalt geben. Eine Traumatisierung ist umso schwerer, je jünger das Opfer ist. Um etwas aufzuarbeiten, bedarf es immer eines gesunden Restanteils der betroffenen Person, den man langsam aufbauen kann.

STANDARD: Wie war es Ihrer Meinung nach in diesem Fall? Müsste man die Frau sofort aus der Familie holen?

Wintersperger: Alles, was Schädigung prolongiert, muss unterbrochen werden. Diese Frau ist möglicherweise so gefangen und gebunden, dass sie das Schreckliche dieser Situation nicht erfassen konnte oder in ihrem Denken und Fühlen so umgedreht war, dass sie auch freiwillig geblieben ist. Wenn Menschen lange in Gefangenschaft sind, dann findet eine Anpassung statt. Diese Menschen versuchen dann, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Das kennt man landläufig als Stockholmsyndrom. Wenn der Vater Macht ausübt, ohne dass die Mutter korrigiert, dann hatte die Frau gar nicht die Möglichkeit, rauszukönnen. (Martina Stemmer, DER STANDARD - Printausgabe, 28. April 2008)