Natascha Kampusch hatte offenbar die Kraft, jahrelanges Eingesperrtsein in der Gewalt eines Psychopathen psychisch zu überstehen. Es ist ihr die Kraft zu wünschen, die zweite Misshandlung, diesmal durch Gesaftel in Zeitungen, ebenfalls durchzustehen.

Die Gratiszeitung Heute veröffentlicht unter der Titel-Kaskade "Akte Kampusch. Die Wahrheit. Was die Polizei bisher alles verheimlicht hat. Ihre seltsame Aussage über mögliche Mittäter. Protokoll zu Gewalt und Schwangerschaft" vier Seiten voll mit ein paar Tatsachenfetzen und vielen Spekulationen. Das Beinahe-Gratisblatt Österreich behauptet in einem Titel "Geheimakte Natascha", es seien "Sex-Videos und Fotos aufgetaucht".

In beiden Fällen wird die (unter Strafe stehende) Berichterstattung über Tatsachen des Privatlebens (wenn sie denn Tatsachen sind) damit bemäntelt, dass die Polizei Akten zu diesem spektakulären Entführungsfall unterschlagen hätte.

Das ist eine plumpe Verschleierung. Die Polizei hat auf Anordnung der Justiz vollkommen zu Recht Material über das Verhältnis von Natascha Kampusch zu ihrem Entführer Priklopil unter Verschluss gehalten. Das Unheil war allerdings schon geschehen, als eine Polizistin aus dem Wachzimmer, in das Frau Kampusch nach ihrer geglückten Flucht gebracht wurde, völlig unbedarft und gegen alle Regeln in die ORF-Kameras geplappert hatte: Frau Kampusch hätte ihr gestanden, dass sie von Priklopil sexuell missbraucht worden sei. Das wird jetzt in Heute anhand eines Gedächtnisprotokolls der Polizistin wiedergekäut: "Ob sie mit dem Entführer Geschlechtsverkehr hatte, warum sie so einen gebildeten Eindruck erweckt (!) und ob es Komplizen gibt." Höchstens die letzte Frage wäre von einer unausgebildeten Streifenpolizistin in einer Erstbefragung zulässig gewesen. Alles andere wäre Sache von geschulten Vernehmern.

Tatsächlich hat die Polizei in dem Fall etwas vertuscht - nämlich die eigene Inkompetenz. Bekanntlich wurde die Aussage eines Polizeihundeführers, die pfeilgerade zum Entführer geführt hätte, ignoriert. Das ist auch Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses.

Nichts für den Untersuchungsausschuss ist aber das, was sich in einer Extremsituation zwischen der heranwachsenden Natascha Kampusch und ihrem Entführer abgespielt hat. Liest man in Heute und Österreich weiter als zu den sensationellen Titeln, dann stellt sich rasch heraus, dass es bezüglich "Sex-Videos", "schockierender Fotos" und "Sado-Maso-Spielen" vor Wörtern wie "soll" und "angeblich" nur so wimmelt. Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür, dass "schockierende Sex-Videos und Fotos" (Österreich) aufgetaucht sind. Selbst wenn Frau Kampusch zu der schwatzhaften Polizistin gesagt hätte, sie habe "freiwillig" mit dem Entführer Geschlechtsverkehr gehabt, so beweist das überhaupt nichts.

Wer hat dieses üble Gemisch aus Luftgeschichten und Teilwahrheiten an Zeitungen weitergereicht? Der U-Ausschuss war es nicht, sagt der Vorsitzende Fichtenbauer (FPÖ). Das glaube, wer will. Die ÖVP und ihr Innenminister Platter haben damit ein 1-a-Argument, um die Herausgabe von Akten in Fällen, die überhaupt nichts mit Kampusch zu tun haben, zu verweigern.

Natascha Kampusch wurde als Zehnjährige entführt und ist eine beeindruckende junge Frau geworden. Sie wird ihre Kraft brauchen. (Hans Rauscher/DER STANDARD, Printausgabe, 19.4.2008)