Schachbrett: Schüssel eines KZ-Häftlings (Foto: Monika Rabofsky)

Foto: Monika Rabofsky
Wien - Einige Tage nach Kriegsende stellte Herwarth Kirner, damals 14 Jahre alt, in Iffeldorf (Bayern), gut 60 Kilometer von Dachau entfernt, einen schmächtigen Jungen in Sträflingskleidung, der im Garten Steckzwiebel aus der Erde zog und in eine, wie er meinte, Blechschüssel warf: "Ich sagte zu ihm in harschem Tonfall, er solle das lassen, die Zwiebeln müssten doch erst wachsen." Kirner drohte ihm Schläge an, worauf dieser aufblickte: "Ich sah in ein Gesicht mit unsäglich traurigen Augen und mit klangloser Stimme sagte er zu mir: ,Ich fünf Jahre KZ, ich viel Schläge.' Er zog noch einige Stecklinge heraus, schob sie in die Jackentasche, drehte sich um und ging weg." Kirner sei sprachlos, die Begebenheit seine "erste Lektion in Sachen KZ" gewesen.

Die Schüssel hatte der freigekommene NS-Häftling zurückgelassen: Kirner hob sie auf und legte sie in den Hühnerstall. "Wir benutzten diese noch lange Zeit als Behältnis für Hühnerfutter." Jahrzehnte später übergab er sie dem Archiv der Gedenkstätte Dachau.

Aus erster und zweiter Hand

Und auch wenn sie bloß eine Schüssel aus Aluminium ist, vermag sie vieles zu erzählen. Denn am Rand der Schüssel ist das BMW-Logo eingestanzt. Der Mann, der sie besaß, muss jenem Außenkommando angehört haben, das bei den Bayerischen Motoren Werken eingesetzt wurde. Seine Initialen dürften HX gewesen sein: Diese Buchstaben hat er zusammen mit einem Häftlingswinkel eingeritzt. Und in den Boden gravierte er ein Schachbrett. Um zumindest für Minuten vom menschenunwürdigen Leben im KZ abgelenkt zu sein.

Diese Schüssel ist eines der zentralen Exponate einer Sonderschau im Österreichischen Museum für Volkskunde, die am Donnerstag von Bundespräsident Heinz Fischer eröffnet wurde. Auch wenn der Titel "Zeit Raum Beziehung" wenig griffig ist: Die Ausstellung über "Menschen und Dinge im Konzentrationslager Dachau" berührt beziehungsweise erschüttert aufgrund vieler kleiner Erzählungen aus erster und zweiter Hand. Wobei manche Objekte gar nicht vorhanden sind: Ernst Eisenmayer, ein Wiener, musste bei der Einlieferung auch die Mundharmonika abgeben, auf der er selbst am Transport nach Dachau gespielt hatte, um der Situation den Schrecken zu nehmen. Ein halbes Jahr später wurde er von seinem Bruder befreit, der nach England hatte fliehen können. Bei der Entlassung erhielt er seine persönlichen Dinge zurück, doch der Häftling, der ihm die Sachen gab, bat ihn um die Mundharmonika: "So habe ich sie zweimal verloren", sagt Eisenmayer. "Aber das zweite Mal war ich sehr froh darüber."

In der Ausstellung, zusammengestellt von 15 Studierenden des Instituts für Europäische Ethnologie der Uni Wien unter der Leitung von Michaela Haibl, geht es vor allem um Beziehungen: um Freundschaften, die fast nicht möglich waren, weil jeder um sein eigenes Überleben kämpfte, um Kontakte zur Außenwelt - und vor allem um Beziehungen zu Dingen, die zu Erinnerungsstücken wurden. Wie jene kleine weiße Porzellanfigur eines pfeifenden russischen Jungen, die ein polnischer Künstler heimlich im KZ angefertigt hatte: Karl Bauer, ein Spanienkämpfer, nahm sie nach der Befreiung mit nach Hause - und schenkte sie 1947 seiner Stieftochter.

Ein anderes Andenken hingegen sollte, nach den Intentionen seines Besitzers, keines mehr sein: 1998 besuchte der Ukrainer Iwan Golowan das KZ Dachau in jenem Häftlingsgewand, das er hatte tragen müssen. Nach dem Rundgang zog er es aus und entsorgte es in einem Mistkübel. Für all die Erzählungen rund um die Dinge braucht es viel Zeit: Man sollte sich diese nehmen. (Thomas Trenkler, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11. April 2008)