"West-Berlin damals: das Bild vom letzten Zug, der nie gefahren ist": Katja Lange-Müller.

Foto: Jürgen Bauer
Wien - Berlin im November 1989. Die Mauer war eben gefallen. Und die Berliner, die 'echten'? "Die meisten von uns 'Aborigines', egal, ob Ost-, West- oder Doppelberliner, fühlten sich während jener schwierigen Monate wie Asseln, die nach Asselart unter Steinen in einem verwilderten Garten gelebt hatten. Aber eine große Hand war gekommen, hatte die Steine fortgenommen, und nun irrten sie kopfscheu herum, die kleinen Wesen, oder stellten sich tot - und wünschten sich nur ihre Heimatsteine zurück; die Dunkelheit, die Ruhe, eben das, was sie gewohnt waren", schreibt Katja Lange-Müller in ihrem Roman Böse Schafe .

Das Buch ist eine Hommage an jenes Asselleben im West-Berlin der Achtzigerjahre, dem andauernden Provisorium mit Verfallsdatum. Die Erzählung der Liebe zwischen Soja - die, wie Katja Lange-Müller 1984 selbst, aus Ost-Berlin in den Westen gekommen war - und Harry, einem West-Berliner Junkie, der an Aids erkrankt war, damals, als noch kaum jemand den Namen dieser Krankheit kannte.

Ferne Zeiten. Ein "historischer Roman", wie Katja Lange-Müller selbst konstatiert.

Standard: Sie schildern ein Berlin, wie es nicht mehr existiert, ein Berlin der Vergangenheit - selbst im Westen?

Lange-Müller: Berlin ist ja eine Stadt mit einem ausgeprägten Hang zur Metamorphose. Die Stadt verändert sich natürlich extrem. Vor einem Vierteljahr hatte ich Besuch von einer Amerikanerin aus Ohio, die vor 35 Jahren in Berlin studiert hat. Die kam zu mir in den Wedding - und sagte: ,Ach, du wohnst wieder im Osten?' Nein, das ist der Westen. Dann fuhren wir nach Friedrichshain, wo jetzt die Szene hingezogen ist, und sie sagte: ,Jetzt sind wir aber im Westen.' Nein, das ist der Osten. Sie hat sich jedes Mal geirrt. Das hat sich vollkommen umgekehrt: Der Westen verpaupert, verkommt. Es gibt Gegenden, da sieht es aus wie in Detroit nach dem Ende der Autoindustrie.

Standard: West-Berlin fehlen die einstigen Subventionen ...

Lange-Müller: Das war natürlich auch so eine Art Idylle, dieses hochsubventionierte West-Berlin. Diese Rosinenbomber-Mentalität. Es war ja auch ganz leicht, wenn man aus dem Osten kam und keine Papiere hatte, da musste man einen Zeugen benennen, der bestätigen konnte, wie lange man da und da gearbeitet hatte - und dann glaubte einem das Arbeitsamt. Und fertig. Wie sollte man denn umgehen mit der Situation? Manche mussten ja wirklich innerhalb von einer Stunde weg. Ohne Papiere. Also musste man dafür Regelungen finden. Und die waren höchst salopp.

Standard: Eine Überraschung, wenn man, wie Sie, aus dem Osten nach West-Berlin wechselte?

Lange-Müller: Das war irgendwie schon erstaunlich. Wenn man ging, hatte man das Gefühl, man kommt jetzt in den Kapitalismus - und dann kam man in dieses West-Berlin und dachte, das ist ja hier der eigentliche Sozialismus, so eine Art Hippie-Sozialismus. Das hatte man nicht erwartet. Man kam in eine Stadt, in der Knüllpapier die Straße entlangtrudelte und die Straßencafés schon ein bisschen angeknabbert aussahen. Ich musste immer an Transit denken. Das Bild vom letzten Zug, der nie gefahren ist. Von einem verlängerten Provisorium.

Standard: Harry, der männliche Protagonist Ihres Romans, ist Junkie, hat Aids. Beschreibt auch diese Sucht, die Krankheit die Stimmung jener Jahre?

Lange-Müller: Junkies kannte man im Osten nicht. Und Aids schlug in diese vor sich hin welkende West-Berliner Party ein wie eine Bombe. Das passte zu diesem Lebensgefühl überhaupt nicht. Das war eine massive Irritation. Es gab auch diese Langzeitstudenten. Auf einmal wachten die auf. Und viele sind klammheimlich zu Mappi und Pammi zurück in die Provinz. Und haben die Eisenwarenhandlung von Pappi übernommen.

Standard: Junkies auch als andere Seite der Freiheit?

Lange-Müller: Ja. Auch die Freiheit, nach der wir uns so sehnten, hat ihre Rückseite, wie der Mond. Du hast auch die Freiheit, dich zugrunde zu richten. Nicht wie jetzt, wo sich eine Gesundheitsbeamtin hinstellt und sagt, man muss die Raucher vor sich selbst schützen. Das ist ein Freiheitsverfall. Die Freiheit ist ein zweischneidiges Schwert.

Standard: Apropos Freiheit: Nach dem Fall der Mauer - lernten nicht nur die Ost-Berliner den Westen, auch die West-Berliner lernten erstmals ihre Umgebung kennen ...

Lange-Müller: Ich kann mich noch erinnern, dass ich mit einem West-Berliner nach der Wende nach Brandenburg gefahren bin in irgend so ein Nest. Und wir sitzen in der Dorfkneipe, essen eine Kohlroulade. Da sagt der West-Berliner zu mir: ,Warum berlinern die hier eigentlich alle?' Kommt der Wirt, der das gehört hatte, und sagte: ,Dafür, dass du aus deinem Scheiß-West-Berlin nie rausgekommen bist, sprichste aber och ein sehr jutes Brandenburjer Platt'. Da war dem West-Berliner zum ersten Mal klar, dass das, was er spricht, eigentlich ein Ostdialekt ist: Brandenburger Platt. Die haben sich nie einen Gedanken darüber gemacht, was sie eigentlich sprechen. Die waren erstaunt, dass die in Ost-Berlin nicht Sächsisch sprechen ...

Standard: "Böse Schafe" ist aber nicht nur ein Berlin-Roman, sondern die Geschichte einer Liebe, der Respekt vor der Fremdheit des anderen.

Lange-Müller: Natürlich hat der Roman auch etwas Parabelhaftes, natürlich stehen die beiden Figuren auch für die beiden Teile der Stadt, und sie sind beide plebejische Figuren, weil Berlin eine plebejische Stadt ist - aber wenn man einer Geschichte gleich anmerkt, dass es eine Parabel ist, ist die Parabel auch versaut. Deswegen wollte ich schon, dass der größere Akzent auf der Liebesgeschichte bleibt.

Standard: Ihr Roman ist ein Gespräch der Überlebenden mit dem Toten.

Lange-Müller: Auch die Liebe ist metamorph. Ich habe das oft erlebt, als Psychiatrie-Krankenschwester, wie kindlich ein Mensch wird, wenn er verfällt. Und dass auch die Liebe sich da noch einmal ändert. Sie entsexualisiert sich. Wird aber nicht weniger. Im Gegenteil. Wenn du einem Mann erst mal den Hintern geputzt hast, ist es meistens vorbei mit der Erotik. Nicht aber vorbei mit der Liebe. Das, finde ich, ist auch ein ziemlicher Triumph. Dass da nicht Schluss ist. Selbst der Tod beendet ja nicht die Liebe. Dass sie von solchen realo-wirklichen Verhältnissen nicht erreichbar ist. Das ist ein Rest emotionaler Anarchie.

Katja Lange-Müller: "Böse Schafe". 16,90 Euro / 208 Seiten. Köln, KiWi 2007.

(Cornelia Niedermeier, DER STANDARD/Printausgabe, 04.04.2008)