"Auf einer schnurlosen Schaukel zwischen zwei Welten": Hatice und Cahit Cakir

Foto: Diagonale

Gestank im Haus, zerfallendes Gemäuer, rabenschwarze Wände: "So habe ich mir Europa nicht vorgestellt", sagt Ipek Dag. Als sie 1976 nach Wien kam, fuhr man sie vom Südbahnhof direkt ins Arbeiterheim. "Nicht einmal ein Hund würde es aushalten, hier zu leben", wundert sich Hasan Özoglu. Auch er hat im Heim gewohnt, im Bettenlager, auf engstem Raum mit achtzig anderen Gastarbeitern.

 

Blumen am Südbahnhof

Dag und Özoglu sind zwei der neun türkischen Frauen und Männer, die der Wiener Filmemacher Kenan Kilic in seiner Dokumentation "Gurbet – In der Fremde" über ihr Leben sprechen lässt. Sie alle sind vor rund 40 Jahren in Österreich angeworben, mit Blumen am Südbahnhof empfangen worden. Für die österreichischen Arbeitgeber waren sie humane Ressource, geleast nach Bedarf für drei, fünf, acht Jahre. Für sie selbst war Österreich die Vorstufe zum materiell erfüllten Leben.

Endlich ein eigenes Haus, eine Firma, Bildung für die Kinder: Das waren die Hoffnungen, die Ipek Dag, Hasan Özoglu, Cahit Cakir und die anderen sechs ProtagonistInnen in Kenan Kilics Film "Gurbet - In der Fremde" an ihre Zwischendurch-Heimat knüpften. In der 97-minütigen Dokumentation, die vergangene Woche bei der Diagonale in Graz Premiere hatte, blicken sie auf ihr Leben zurück, das sie wider das Erwarten aller Beteiligten nicht in der Türkei, sondern in Österreich verbrachten.

"Frage mich, wann ich alt geworden bin"

"Ich frage mich, wann ich alt geworden bin", sagt Vahit Toy. Aus fünf Jahren harter Arbeit, um sich in der Türkei einen Traktor leisten zu können, wurde ein Arbeitsleben. Die Dachdeckerei ruinierte seine Bandscheiben, führte zu Schwindelanfällen bis zur Bewusstlosigkeit. In Toys Job ein Lebensrisiko – Invalidenrente bekam er trotzdem nicht. Toy wurde arbeitslos. Er beklagt sich nicht: Was ihn stört, sind andere Dinge. Dass die Nachbarn ihn fünf Monate lang nicht grüßten. Während die GastarbeiterInnen irgendwann akzeptierten, dass Österreich ihre neue Heimat ist, falle das vielen ÖsterreicherInnen noch heute schwer, sagt auch Cemalettin Cuhaci, ein Bauarbeiter in Wien: "Ich bin seit 40 Jahren hier, und immer noch sagen sie 'Gast' zu mir."

"Gurbet" kombiniert Wohnzimmer-Gespräche mit den neun ProtagonistInnen mit beeindruckendem Archivmaterial aus den Sechzigerjahren: Sie zeigen die Gewissheit des nahenden Wohlstands in den strahlenden Augen der Zurückgebliebenen am Bahnsteig des Istanbuler Bahnhofs. Und er zeigt das, was heute davon geblieben ist: Der Schmerz der Kinder, die in der Türkei ohne Vater aufwuchsen. Das Gefühl der Ausgewanderten, nirgends mehr verwurzelt zu sein. Von einer "schnurlosen Schaukel zwischen zwei Welten" spricht Cahit Cakir, der in der Pension noch gelegentlich Taxi fährt. Doch für jene Taxigäste, die ihn beim Einsteigen die "Inländer oder Ausländer?"-Frage stellen, ist die Zuordnung klar: Einmal Türke, immer Türke.

Fleisch-Probleme

Das Konzept des Films ist so simpel wie entlarvend: Muss man ins Kino gehen, um zu erfahren, wie die Menschen leben? "Seit ich hier wohne, hat noch niemand bei mir angeklopft, um zu fragen, was ich so mache", sagt Ipek Dag. Die Probleme nach der Ankunft, als sie im Geschäft nicht wussten, was Schweine- und was Rindfleisch war – wer kümmerte sich darum? Lieber klagte man über das Hammelbraten im Innenhof.

Kilics Film möchte mehr sein als eine Aneinanderreihung von Biografien: "Es geht um das Versagen der Politik, das Nicht-Wahrnehmen dieser Menschen." Die Gastarbeiter-Ära ist mittlerweile Wirtschaftsgeschichte, Kilics Protagonisten sind deren Quellen. Sie zeugen aber auch von der Veränderung im Umgang mit Zuwanderern: Zwar gibt es heute Deutschkurse und Fördermittel. Aber der Film zeigt auch Vahit Toy an seinem Schreibtisch, wie er ein YouTube-Video abspielt und feststellt: "Ich lebe seit 36 Jahren in Österreich. Aber so etwas erlebe ich zum ersten Mal." Es ist Susanne Winters Grazer Wahlkampfrede. (Maria Sterkl, derStandard.at, 3.4.2008)