Es ist ja ein vielgenutztes Argument im Streit um Für und Wider des EU-Vertrags von Lissabon, das die Gegner den Befürwortern und die Befürworter den Gegnern immer wieder vorwerfen: "Haben Sie ihn denn überhaupt gelesen?" Eine nicht ganz unberechtigte Frage – ist doch die "originale" Fassung des Vertrages eigentlich eine gewaltige, hunderte Seiten lange Sammlung von Verweisen auf die bisherigen Verträge. Wer in den geltenden Rechtsgrundlagen der EU nicht absolut sattelfest ist, hatte bisher berechtigte Schwierigkeiten, den Vertrag von Lissabon in all seinen Details zu durchschauen. Der Grund für die schwer lesbare Form ist die Tradition der EU, Vertragsänderungen durch einen Mantelvertrag, also einer Anpassung der existierenden Verträge, vorzunehmen.

Die so genannte konsolidierte Form des Vertrages, ergänzt um Verweise auf geltende Bestimmungen und erläuternde Kommentare, ist jetzt als Buch (mit begleitender CD-ROM) erschienen. Klemens H. Fischer, Gesandter bei der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU, kommentiert und erklärt auf über 100 Seiten den Weg von Nizza nach Lissabon. Rund 400 Seiten macht die tatsächliche Fassung des Vertrages aus. Immer noch keine leichte Lektüre für zwischendurch – aber verständlich und übersichtlich aufgearbeitet.

Im aktuell schwelenden Streit um Sinn und Unsinn von Volksbefragungen über den Vertrag von Lissabon wird wenig über detaillierte Inhalte gesprochen. Ein Vorwurf, den man Gegnern wie Befürwortern machen kann: Die einen wiederholen Schlagworte wie "Demokratieabbau", die anderen preisen in immer gleichen Worten den Fortschritt und wollen so wenig wie möglich über Kritikpunkte hören. Eine Situation, an der auch die Medien Mitschuld tragen: Zu sperrig, zu juristisch, zu theoretisch ist das Vertragswerk, als dass man es dem Publikum inhaltlich näher bringen könnte und wollte – so zumindest ein Argument von Journalisten dafür, sich lieber auf die "publikumswirksamen" Themen zu konzentrieren und Inhaltliches weitgehend auszuklammern.

Wer ein bisschen mehr über den Lissaboner Vertrag wissen will als die Schreiber der Kronenzeitungs-Leserbriefe, ist mit Fischers Buch gut bedient. So wird etwa schlüssig erklärt, welche Auswirkungen der Vertrag auf die Entscheidungsfindung in europäischen Gremien hat, welche bedeutenden Unterschiede zu den alten Verträgen bestehen und wie die Verhandlungen auf politischer Ebene tatsächlich abgelaufen sind. Fischer kann seine – tendenziell positive – Haltung zum Vertrag von Lissabon im analytischen Teil nicht verleugnen, was wohl auch in seiner beruflichen Position begründet ist. Der kommentierte Verfassungstext ist allerdings gänzlich frei von persönlichen Meinungen und somit für Gegner wie Befürworter lesenswert. (Anita Zielina, derStandard.at, 1.4.2008)