Politischer Zynismus auf der Promenade von Pozzuoli: „Steh auf, Italien!“ steht auf dem Wahlplakat.

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Drei Figuren der neapolitanischen Misere: der Müllbekämpfer Gianni De Gennaro ...

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... die Anti-Camorra-Aktivistin Silvana Fucito ...

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... und der Regionalpräsident Kampaniens, Antonio Bassolino.

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Müllmisere, Mozzarella-Krise, Mafia, wohin das Auge reicht - in Süditalien versagt das Gemeinwesen in allen Belangen. Die italienischen Parteien jeglicher Couleur finden im Wahlkampf keine Antworten auf den Notstand.

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Sein Gehöft trägt den reizvollen Namen "Masseria del Re". Königlich mag sein Bauernhof vor Jahren gewesen sein, als die Steinmauern einsam aus einem Meer blühender Pfirsichbäume ragten. Salvatore Picone wohnt nicht mehr dort, seit ihm eine mächtige Barriere aus schwarzen Kunststoffplanen den Blick auf die Obstbäume versperrt. Darunter dampfen still 3,5 Millionen Kubikmeter Müll, verpackt in gigantische Pakete, für die man die Bezeichnung "ecoballe" erfunden hat. Mit Öko haben die Müllballen freilich nichts gemein. Sie sind die jüngste Erfindung im 15-jährigen Kampf Neapels gegen die überbordende Müllflut, an der die süditalienische Millionenstadt zu ersticken droht.

In Marigliano geht es lebhafter zu. Unter dem Zuspruch ihrer Eltern bespucken Schüler eingeschlossene Polizeiautos. Beamte knüppeln auf schreiende Menschen ein. "Wir haben keine Angst", kreischt eine Frau. "Ob wir an euren Schlägen oder Krebs krepieren, ist einerlei!" Willkommen im Todesdreieck zwischen Acerra, Nola und Marigliano. Mit dioxinverseuchten Böden, arsenbelasteten Flüssen, verendenden Schafherden, vergifteter Milch und rapide steigenden Krebsraten.

1750 Quadratkilometer Kampaniens sind teils hochgradig verseucht. 1200 illegale Giftmüllkippen zieren die einst von Plinius gerühmte Landschaft zwischen dem prunkvollen Königsschloss von Caserta und dem legendären Pompeij. "Biùtiful Cauntri" heißt ein neuer Film, der in schockierenden Sequenzen die Umtriebe der "Ökomafia" dokumentiert - jener Camorra-Clans, die über Jahre Industrie- und Sondermüll aus Norditalien "entsorgten".

Mit Zustimmung korrupter Verwalter kippten sie das gefährliche Gut auf normale Deponien, in eilig ausgehobene Gruben oder brachliegende Felder und kassierten dafür enorme Summen. "Ein beispielloses Desaster, für das niemand zur Verantwortung gezogen wurde", klagt der Umweltschützer Raffaele del Giudice. Acht Sonderkommissare scheiterten bisher beim Versuch, Neapels Müllproblem in den Griff zu bekommen. Sie scheiterten am Widerstand von Bürgermeistern, an den Protesten aufgebrachter Bewohner, an der Ineffizienz der Behörden, an Einsprüchen der Gemeinden und Urteilen der Verwaltungsgerichte, an der fehlenden Mülltrennung und dem ewigen Gezänk der Parteien.

In drei Monaten wollte der neunte und vorerst letzte Kommissar die Stadt von ihrem Albtraum befreien. Längst sehnt sich Gianni De Gennaro nach seinem Posten als Polizeichef zurück. Bei der Sisyphusaufgabe, eine Million Tonnen Müll zu beseitigen, fühle er sich "allein gelassen", klagt der Kettenraucher. Längst quellen alle Deponien und Recycling-Anlagen des Umlands über. Der Bau geplanter Verbrennungsanlagen stockt im Sperrfeuer politischer Querelen. Eine Notlösung folgt auf die andere.

200.000 Tonnen Müll sollen mit Zügen nach Deutschland transportiert und verbrannt werden. Mit der Schweiz und Israel verhandelt De Gennaro. Längst hat er seine hochtrabenden Ziele dem Anliegen geopfert, Straßen und Plätze vor Sommerbeginn notdürftig vom Abfall zu befreien. Etwa die Uferpromenade von Pozzuoli, wo Müllberge den Strand zieren wie anderswo Rosenbeete.

Unbequeme Wahrheit

Die Wahrheit ist unbequem - niemand in Neapel will sie aussprechen: Eine kurzfristige Lösung existiert nicht. Zwei Jahre dauert allein die Fertigstellung der Verbrennungsanlage in Acerra. Was liegt da näher, als die Müllmisere zum Wahlkampfthema zu machen? Gibt es ein dankbareres Argument als stinkende Müllberge in einer Millionenstadt? Antonio Bassolino trauert seinen Jahren als populärer Bürgermeister Neapels nach. Heute steht er als entzauberter Regionalpräsident unter dem Druck gerichtlicher Ermittlungen.

Die Stadt habe den Tiefpunkt erreicht, findet der Unternehmer Maurizio Marinella, dessen Krawatten viele Staatschefs in aller Welt tragen: "Neapel wird nie so sauber sein wie Zürich. Aber vielleicht sollten wir zumindest lernen, Italiener zu werden". An tägliche Hiobsbotschaften hat sich auch der Präsident des Verkehrsamtes gewöhnt. "Die Lage ist dramatisch", seufzt Luigi Necco. "Wir schätzen die Einbußen auf über 30 Prozent." Neapels berühmtestes Restaurant Caruso hat bereits dichtgemacht. In Capri blieben die Hotels zu Ostern geschlossen.

Die Schlagzeilen über dioxinbelastete Mozzarella verunsichern die Verbraucher. "Eine schmerzliche Erfahrung", seufzt Tonino Esposito, der Wirt des neapolitanischen Traditionslokals Leon d'Oro. "Ich kenne viele Bauern, die sich mit Hingabe ihren Tomaten und Auberginen widmen. Sie sind Opfer einer Kampagne, die kein gutes Haar an Neapel lässt."

Der Ruf Neapels hat damit zu tun, dass man das wichtigste Unternehmen der chaotischen Metropole im Handelsregister vergeblich sucht. Die Camorra erwirtschaftet fast 20 Milliarden Euro pro Jahr. Ihre Geschäftspraktiken kennt Michele Spina seit Jahren. Sein Kommissariat im Problemviertel Scampia ist durch Stahlgitter geschützt, der Wartesaal für Opfer von Überfällen gleicht dem eines mittleren Bahnhofs.

"Um die Camorra erfolgreich zu bekämpfen, muss man ihr den Nährboden entziehen - Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Verwahrlosung, Erpressung". Die verkommenen Sozialbauten der "Vele" gehören zu Italiens symbolhaftesten Mafia-Kulissen. Eingeschlagene Scheiben, verlassene Wohnungen, Stiegenhäuser voll Scherben und Müll. Ein düsteres Labyrinth, in dem hunderte Dealer rund um die Uhr ihr Geschäft machen. Große Fische gibt es hier nicht. Die sitzen in den Luxusvillen der Camorra-Clans."Die Lage hat sich dramatisch verschlechtert", sagt Simone de Meo, Autor des neuen Buches Das Reich der Camorra. "Heute sind es die Unternehmer und Politiker, die den Kontakt zur Camorra suchen".

Silvana Fucito schüttelt energisch den Kopf. "Vor vier Jahren gab es 20 Anzeigen gegen die Mafia, heute sind es 1400 pro Jahr". Die kleine Neapolitanerin gilt als furchtlose Vorkämpferin gegen die Camorra. Sie brachte 15 Camorristi hinter Gitter. Die zündeten ihr Farbengeschäft an, weil Fucito Schutzgeldzahlungen standhaft verweigert hatte. "Bitte läuten" steht an ihrem Laden in Portici. Hinter dem Tor verbirgt sich ein traumhafter Garten mit duftenden Hecken und blühenden Zitronenbäumen. Sieht man Silvana Fucito hier auf der Marmorbank sitzen, möchte man fast an eine Idylle glauben - wären da nicht zwei bewaffnete Leibwächter, die ihr auf Schritt und Tritt folgen. (Gerhard Mumelter aus Neapel/DER STANDARD, Printausgabe, 28.3.2008)