Wenn ich dieser Tage aus den Medien erfahre, wie sich SPÖ und FPÖ nahekommen, dann muss ich unwillkürlich an das denken, was ich vor 70 Jahren selbst erlebt habe.

Es möge mich niemand belehren, dass doch eine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ nicht zu einer solchen Katastrophe führen würde wie damals, denn damit argumentierte doch auch die ÖVP, als sie sich vor acht Jahren mit Haider verbündete. Danach demonstrierten 250.000 Menschen in Wien dagegen, und es gab jahrelang Donnerstagsdemonstrationen. Jetzt scheinen die gleichen Akteure wie gelähmt.

Bei einer Pressekonferenz Anfang März 2008 fragte ich einen österreichischen Historiker zum Tabuthema - wie es dazu kam, dass so viele Sozialdemokraten zu den Nationalsozialisten hinüberwechselten. Ich befragte ihn auch zu Karl Renner, der ohne Not den "Anschluss" des Sudetenlandes befürwortete.

Ausweichende Antwort

Die Antwort des Historikers machte mich sprachlos: Erstens gibt es seit 30 Jahren kein solches Tabu, zweitens hat sich doch der zurückgetretene Bundespräsident Miklas - ein Gegner des "Anschlusses" - bei den Nationalsozialisten Ende März 1938 angebiedert, er wolle den "Anschluss" befürworten, was aber abgelehnt wurde, und drittens sei Karl Renner nicht mit Kardinal Innitzer zu vergleichen, denn Renner hätte sich doch in einem Interview mit dem Wiener Tagblatt vom (NS-)System distanziert.

Nun war Bundespräsident Miklas kein Sozialdemokrat, und ich habe Kardinal Innitzer überhaupt nicht erwähnt, doch gerade diese ausweichende Antwort zeigt, dass dieses Thema - vielleicht nicht unter Historikern, aber in der Öffentlichkeit - Tabu bleibt.

1938 war ich zehn Jahre alt und erlebte den Unterschied zwischen dem Ständestaat und der deutsch-österreichischen Volksgemeinschaft in meiner Heimatstadt Baden bei Wien hautnah. Unvergesslich bleibt mir der Schock meiner Eltern, als sie hörten, dass ein beliebter jüdischer Arzt, der Ausgesteuerte (Arbeitslose, die keine Unterstützung mehr erhielten) und ihre Kinder gratis behandelte, eben von diesen seinen ehemaligen Genossen und Genossinnen zum Straßenputzen mit einer Zahnbürste geführt, verhöhnt und geschlagen wurde.

Dieser Tage muss ich oft an diesen Arzt denken. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.3.2008)