Um das Leid zu lindern und Spannungen abzubauen, sind humanitäre Hilfe und offene Grenzübergänge wichtig - der wirtschaftliche Druck muss aufhören.

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Kürzlich war ich in Gaza, einem der am dichtesten besiedelten Gebiete, die es gibt. Das zunehmende Elend der Menschen, das ich dort sah, zeigte nur zu klar das starke Auseinanderdriften zwischen den Zielen und Hoffnungen des wiederbelebten Friedensprozesses im Nahen Osten und der harten Realität der sich verschlechternden Lage vor Ort. Dieses Auseinanderdriften kann sich als verheerend für die Friedensanstrengungen erweisen und einer der größten Flüchtlingsgruppen der Welt schweren Schaden zufügen, wenn jetzt nicht schnell gehandelt wird.

Die 1,5 Millionen Menschen in Gaza leiden unter der eingeschränkten Bewegungsfreiheit, die von Israel seit der Machtübernahme der Hamas im Juni 2007 weiter verschärft worden ist. Im September erklärte die israelische Regierung Gaza zum "feindlichen Territorium", was den Weg ebnete, die wirtschaftliche Schlinge noch enger zu ziehen. Die Bevölkerung muss mit den schwindenden Vorräten und Ressourcen durchkommen. Betroffen sind besonders die, die am verletzlichsten sind: Kinder, Ältere und Schwache.

Ich sage eines ganz deutlich: Die Sicherheitsinteressen Israels sind verständlich. Willkürliche Raketenangriffe der Palästinenser von Gaza nach Israel müssen sofort aufhören. Es kann keine Legitimation solcher kriminellen Taten geben, und ich verurteile sie uneingeschränkt.

Dennoch benötigt Gaza jetzt dringend zuverlässigere Nahrungsmittellieferungen, Waren und Ersatzteile aller Art, um die Wasser- und Stromversorgung aufrechtzuerhalten. Auch viele andere Güter müssen eingeführt werden, um die wankende Infrastruktur in den Bereichen Medizin und Bildung zu stabilisieren und die am Boden liegende Industrie und Landwirtschaft wieder zu beleben.

50 Prozent Arbeitslosigkeit

Fast 80 Prozent der Bevölkerung in Gaza hängt von der Nahrungsmittelhilfe der UNO und anderer humanitärer Partner ab. Seit Juni 2007 wurden 85 Prozent der industriellen Fertigungsstätten in Gaza geschlossen, und mehr als 50 Prozent der Menschen sind jetzt ohne Arbeit. Die Qualität des Trinkwassers nimmt rapide ab, sauberes Wasser ist nur noch sporadisch für die gesamte Bevölkerung vorhanden. 40 Millionen Liter ungeklärte Abwässer werden jeden Tag mit unsagbaren Folgen für die Umwelt in das Mittelmeer eingeleitet. Von allen Mangelgütern des Gazastreifens ist Hoffnung - das wichtigste aller menschlichen Bedürfnisse - das knappste Gut. Diese Art von dauerhafter Hoffnung zu geben, die nötig ist, um dem wachsenden Extremismus Einhalt zu gebieten, ist eine politische Aufgabe.

Man kann sich die Verzweiflung und das Gefühl von Erniedrigung in diesem riesigen Freiluft-Gefängnis kaum vorstellen. Das Pulverfass wartet nur noch auf den zündenden Funken. Aber niemand kann Interesse daran haben, den Gazastreifen explodieren zu sehen, vor allem liegt dies nicht im Sicherheitsinteresse Israels.

Wie können wir das Leid lindern und dazu beitragen, die Spannungen abzubauen? Zuerst einmal benötigen humanitäre Organisationen unmittelbaren, unbeschränkten und regelmäßigen Zugang für all ihre Güter und Mitarbeiter, anstatt des momentan nur widerwillig gestatteten Zugangs. Derzeit sind humanitäre und Entwicklungsprojekte der UNO im Wert von 213 Millionen US-Dollar blockiert, weil die Rohstoffe - vor allem Zement - dafür fehlen. Ich habe den Spitzenpolitikern Israels nahegelegt, Lieferungen durchzulassen, damit diese wesentlichen Projekte weitergeführt werden können.

Zweitens ist humanitäre Hilfe zwar wichtig, kann allein aber nicht das Leid im Gazastreifen mindern. Die Grenzübergänge des Gazastreifens müssen geöffnet werden. Ohne freien Fluss von Gütern und Arbeit in den Gazastreifen und aus dem Gazastreifen heraus wird die Privatwirtschaft nicht fähig sein, als Katalysator für die am Boden liegende Wirtschaft zu dienen. Die Öffnung des zentralen Übergangs für die Wirtschaft, Karni, ist ein entscheidender erster Schritt in diese Richtung. Die Palästinenserbehörde hat konstruktive Vorschläge gemacht, wie das umgesetzt werden kann, ohne dabei Israels Sicherheit zu gefährden. Ich dränge alle Seiten dazu, über diese Vorschläge ernsthaft nachzudenken und einer Lösung einschließlich eines akzeptablen Sicherheitssystems zuzustimmen.

Ein ehrgeiziger Weg

Drittens sollte Hamas das Abfeuern der Kassam-Raketen aus dem Gazastreifen stoppen. Das ist ein unüberlegter Akt, sie verletzen und töten Zivilisten und provozieren wirtschaftliche und militärische Reaktionen, die die Notlage der Menschen im Gazastreifen nur verschlimmern.

Viertens ist der wirtschaftliche Druck auf den Gazastreifen nicht vereinbar mit Israels Verpflichtung, internationales humanitäres Recht zu beachten. Dieser Druck muss aufhören. Die Mehrheit der Bewohner des Gazastreifens sollte nicht für die kriminellen Handlungen einer gewaltbereiten Minderheit bestraft werden.

Letztendlich sollten wir unser Ziel nicht aus den Augen verlieren: dass zwei Staaten in Frieden leben und eine sicherere und blühende Zukunft für ihre Menschen schmieden. Es scheint ehrgeizig zu sein, aber es ist der einzige langfristig mögliche Weg. Frieden kann weder durch Wut geschaffen werden, noch durch die Verweigerung von Würde. Die einzige effektive Lösung, um dieses Leid zu beenden, bietet ein gerechter und dauerhafter Friedensschluss. Darauf sollten alle unsere Bemühungen abzielen, damit aus Hass Hoffnung wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.3.2008)