Kein plötzlicher "Anschluss": Bereits im Februar 1938 demonstrierten nationalsozialistische Studierende und Professoren auf der Rampe der Universität Wien ihre Verbundenheit mit dem Deutschen Reich.

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Nationalsozialisten bei der "Wiedereröffnung" der Uni Wien am 25. April 1938 durch Gauleiter Josef Bürckel.

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Wien – Als Ilse Ascher im Wintersemester 1937/38 ihr Studium der Germanistik und Pädagogik beginnt, glaubt sie aus evangelischem, sozialdemokratischem Haus zu sein. Erst am Tag des "Anschlusses" erfährt sie von ihren Eltern, dass sie nach den "Nürnberger Rassengesetzen" als "Volljüdin" gilt. Es ist ihr nicht möglich, das Studium fortzusetzen. Ihr Vater und ihr Bruder verlieren ihre Anstellung, die Familie muss emigrieren. Ilse Ascher und ihrem Bruder gelingt die Flucht, ihre Eltern werden in Riga ermordet.

Mit Biografien wie dieser haben sich die Historiker Gert Dressel, Doris Ingrisch und Herbert Posch in ihrer Studie über die Studierenden der Universität Wien im Jahr 1938 beschäftigt. Die Universität ist jedoch schon vor 1938 nicht frei von nationalsozialistischer Gesinnung gewesen. Bei den letzten Hochschülerschaftswahlen, 1931, bei denen sich die Nationalsozialisten demokratisch zur Wahl stellen, erzielen sie auf fast allen Universitäten eine absolute Mehrheit.

Nach dem "Anschluss" im März 1938 wird die Studierendenvertretung und die gesamte Universität nach dem Führerprinzip geordnet, die Vertreter der Universität – Professoren, Dekane und Rektoren – werden von oberster Stelle ernannt, die "Säuberung" der Universität setzt ein.

Dabei übernehmen die Studentenvertreter wichtige Funktionen. Sie kontrollieren die Arierpässe an den Eingängen, organisieren verpflichtende Lager und sorgen dafür, dass Juden das Betreten der Uni-Bibliothek verboten wird. Die Aufnahme ausländischer Hörer erfolgt nur nach Empfehlung der Studentenführung und auch auf die Stipendien-Vergabe haben die Studenten großen Einfluss. Juden, linke Studenten und Frauen gelten nicht als förderungswürdig.

Um die "Säuberung" der Unis voranzutreiben, greifen die Studenten auch zu radikalen Mitteln. Die Studentenvertretung stellt mehrere Anträge, dass die Statuen jüdischer Professoren aus dem Arkadenhof entfernt werden.

"Weil der Rektor nicht schnell genug reagiert, greifen die Studierenden zu Selbsthilfe, schmeißen sie die Denkmäler einfach um und beschmieren sie. Hinterher werfen sie dem Rektor vor: Wenn er nicht schnell genug reagiere, dürfe er sich nicht wundern. Dass so ein Ton von Studenten gegenüber einem Rektor angeschlagen wird, kenne ich davor nicht", sagt Posch. Ihren Einfluss erlangte die Studentenvertretung laut des Historikers Walter Höflechner von der Uni Graz nach dem ersten Weltkrieg – vor allem durch soziale Aktionen, denn die wirtschaftliche Lage der Studierenden war prekär: "Viele hatten nichts als die Uniformfetzen, die sie trugen." Die Studentenvertretung sorgte für Kleidung, Essen und Quartier. "Das hatte immer wieder einen nationalen Beigeschmack und verstärkte, dass die, die das organisiert haben, auch in anderen Hinsichten führend wurden", erklärt Höflechner.

Die Prozesse liefen an den österreichischen Unis generell radikaler ab als in Deutschland. Michael Gehler, Institutsleiter für Geschichte an der Uni Hildesheim, meint dazu: "Wo sich in Deutschland im Laufe von sechs Jahren die Verfolgung 'entwickeln' kann und den Opfern Spielräume offen bleiben, sich zur erzwungenen Auswanderung zu entscheiden, kommt es in Österreich innerhalb von sieben Monaten in geballter Ladung auf die betroffenen Menschen zu." Sind 1937/38 13.233 Studenten an Österreichs Unis inskribiert, verringert sich die Studentenzahl 1938/39 auf 7888. Für die Universität Wien bedeutet dies einen Verlust von 42 Prozent. 23 Prozent oder 2300 Studierende werden vertrieben, die restlichen 19 Prozent dürften sich wegen des antiintellektuellen Grundklimas für eine Karriere in Industrie, Armee, Partei oder NS-Verwaltung entschieden haben. Der Anteil der Studentinnen liegt 1938 bei 25 Prozent. Über ihre Rolle bei den "Säuberungsaktionen" ist "zumindest nichts aktenkundig geworden", so der Historiker Posch.

Die Uni bleibt, obwohl Frauen bis 1944 die Hälfte der Studierenden stellten, männerdominiert. Zwar gibt es in den sozialistischen und kommunistischen Studentenvereinen die Möglichkeit für Frauen, sich zu engagieren. Bei den Korporationen ist die Frau jedoch "bestenfalls eine Couleurdame, Schmuck und Objekt der Begierde, aber nicht vollwertiges Mitglied", erklärt Gehler.

Keine "Weiße Rose"

Auch der politische Widerstand an den Unis spielt keine große Rolle und nimmt "bei weitem nicht die Formen an, die man aus Deutschland kennt. Eine 'Weiße Rose' hat es in Österreich jedenfalls nicht gegeben", sagt Posch.

Bereits im Ständestaat sind organisierte linke Studenten vom Studium ausgeschlossen gewesen. "Der politische Widerstand hat schon vier Jahre Verfolgung hinter sich. Die Strukturen, die 1938 noch existieren, sind bereits ziemlich zerstört." Posch beschreibt die Mehrzahl der Studierenden als "politisch desinteressiert: Sie wollten einfach nur studieren". Nicht nur aktive Studierende spüren die Auswirkungen der NS-Machtergreifung: "Die Aberkennung der akademischen Grade erfolgt nicht unmittelbar 1938, sondern an der Uni Wien beginnt man 1939 systematisch, aber in Einzelverfahren akademische Grade all jenen abzuerkennen, die erfolgreich emigrieren konnten", erklärt Posch. Von diesen Maßnahmen sind rund 400 Studierende betroffen. In der Folge wird 1943 allen jüdischen Absolventen das Doktorat aberkannt.

Ungültige Aberkennung

Nach Kriegsende werden die Aberkennungen für ungültig erklärt. Betroffene müssen sich melden, um ihre Titel zurückzuerhalten. Mangels Resonanz werden 1955 in einem kollektiven, aber nicht öffentlichen Akt, die Titel wiederverliehen. Einige Absolventen werden vergessen, erst 2004 bekommen sie ihren Titel wieder. Als prominentes Beispiel gilt Stefan Zweig, der 1904 in Philosophie promoviert. Sein Doktorat, das ihm 1942 aberkannt wird, erhält er erst 2004 zurück.

In den Jahren nationalsozialistischer Herrschaft werden Bildungsbiografien unter- und gebrochen. Nur wenige ausgeschlossene Studierende können ihre akademische Ausbildung in der Emigration oder nach 1945 fortsetzen.

Herbert Posch zu einem besonderen Fall eines Mannes, „der den Nationalsozialisten den Erfolg nicht lassen wollte, dass sie ihn gehindert haben, sein Rechtsdoktorat zu machen“. Zwei Jahre lang sparte er in den USA seinen Urlaub, um für zwei Monate nach Wien zu kommen und seine Rigorosen zu machen. "Am Tag der Promotion feierte er nicht, schüttelte keine Hände, sondern verließ Österreich und kam nie wieder." (Julia Wurm, Sebastian Pumberger/DER STANDARD Printausgabe, 4. März 2008)