Delikatesse für Fortgeschrittene: Seeigel sind Meeresfrüchte von ausgeprägter Fruchtigkeit. An der Côte d'Azur werden sie traditionell nur jetzt, im Winter serviert.

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Im Sommer, wenn sie am Strand durchs türkisblaue Wasser schimmern, schwarz, boshaft, dass einem glatt die Lust aufs Meer vergehen könnte, dann verwünscht man sie als gemeingefährliches Ungeziefer. Im Winter aber, wenn das Meer kalt ist und die Strände leer, sind Seeigel höchst willkommen - da sind sie eine Delikatesse, für die Feinschmecker lange Anreisen in Kauf nehmen. In unseren Breiten wird man sie nämlich kaum finden. Am Mittelmeer aber ist jetzt die beste Zeit, um die köstlichen Tierchen, die sich ausschließlich von Algen ernähren, zu genießen: vorzugsweise roh, aber auch in Eierspeisen, auf Pasta oder als Würze raffinierter Fischsaucen.

Das gilt insbesonders für die Côte d'Azur, wo die "oursins" genannten Stacheltiere im Winter einen Fixplatz im Angebot der Fruits-de-Mer-Restaurants haben, die die Strandpromenaden und Boulevards der Badeorte aus der Belle Epoque säumen. Hier kann man im Februar längst im Freien zu Mittag essen und sich die Sonne auf die bleiche Haut scheinen lassen. Die Côte ist ruhig und gelassen in den Wintermonaten, sie gehört für kurze Zeit nur den Einheimischen - und ein paar Wagemutigen, die auf menschenleeren Stränden, im kaum 13 Grad kalten Wasser, ihr Glück finden.

Kalte Jahreszeit

Gegessen werden beim "oursin" nur die Geschlechtsdrüsen, Corail genannt, die an der Innenwand des kugeligen Körpers haften, sternförmig angeordnet sind und gerade in der kalten Jahreszeit ungleich ausgiebiger sind als im Sommer. Außerdem ist im Sommer Paarungszeit, weshalb sie in Frankreich erst ab Oktober gefischt werden dürfen. Jene aus dem Mittelmeer gelten, im gegensatz zu Austern, als besser als die von der Atlantikküste.

Zum Öffnen braucht man eine spitze Schere, mit der, von der bauchseitigen Öffnung ausgehend, ein Kreis knapp oberhalb des "Äquators" ausgeschnitten wird. Die Verdauungsorgane entfernen (am elegantesten, indem man sie mit Meerwasser wegspült), fertig: Den orangen Corail mittels Löffel von der Innenwand heben und pur genießen. Im Restaurant werden Seeigel freilich fertig pariert serviert. Dazu sollte man sich besten Sauvignon Blanc mit klassisch rauchiger, mineralischer Feuersteinnote genehmigen, weißen Bordeaux aus Graves etwa, oder Pouilly-Fumé.

Bis zur Wollust gut

Der Geschmack ist ganz und gar einzigartig: Von cremiger Konsistenz, schmiegt sich der Corail mit verhaltener Wucht an den Gaumen, sehr jodhaltig, ebenso zart süßlich wie salzig, wie bitter - das Meer, aber ganz konzentriert. Das allein ist schon der Hammer, dazu kommt aber ein unverschämtes Aroma von frischer, fruchtiger Mango - völlig irre, bis zur Wollust gut.

Wer erst einmal auf den Geschmack gekommen ist, kann kaum genug davon bekommen. Also ab an die Côte. Wenn man schon mal da ist, sollte man auch den Besuch eines Restaurants einplanen, das zwar kaum mit Seeigel arbeitet, dafür aber andere Vorzüge bietet: das für seine geniale Fischküche (aus ausnahmslos tagesfrischem, lokalem Fang) mit einem Michelin-Stern bedachte "Loulou La Réserve" in Cagnes-sur-Mer, gleich bei Nizza. Die Brüder Eric und Joseph Campo machen provenzalische Fischküche auf ganz hohem Niveau, darunter eine fantastische Bouillabaisse - allerdings nur für Einheimische und jene, die auch in der stillen Zeit kommen: Im Juli und August, wenn ganz Frankreich und der Rest des "beau monde" hier antanzen, dann sperren die Brüder einfach zu - und pfeifen auf das, was man gemeinhin die Hochsaison nennt. (Severin Corti/Der Standard/rondo/22/02/2008)