Eine Spezialeinheit 1997 im Einsatz gegen Dealer in den Favelas von Rio: José Padilhas martialisches Polizeidrama "Tropa De Elite" wurde bei den 58. Internationalen Filmfestspielen in Berlin überraschend zum Sieger gekürt.

Foto: Berlinale
Berlin – Ein Mann durchlebt eine fundamentale Krise. Seine Frau erwartet beider erstes Kind. Sein Beruf ist lebensgefährlich. Und immer öfter setzen dem äußerlich vermeintlich völlig Abgehärteten körperliche Stresssymptome zu.

Am anderen Ende der Gefühlsskala radelt eine junge Frau beschwingt durch London. Kleine Anfechtungen des Alltags, subtilen gesellschaftlichen Druck bekämpft sie mit unverwüstlich guter Laune.

Der Wettbewerb der diesjährigen Berlinale war nicht eben arm an intensiven Gefühlen. Auf der Leinwand wurde viel gelitten, gestorben, oft geweint, schon seltener gelacht. Und damit hängt wohl auch zusammen, dass man nicht wenige Beiträge in erster Linie als Schauspielerfilme wahrnehmen mochte, bei denen wiederum in manchen Fällen die Leistungen der Darsteller den Film oder seine Erzählung als solche überstrahlten.

Schauspielerglück

Die 31-jährige Britin Sally Hawkins, die in Mike Leighs Happy-Go-Lucky mit Verve besagte Londoner Frohnatur spielt, und ihr iranischer Kollege Reza Najie, der in Majid Majidis The Song of The Sparrows unbeirrbar ums wirtschaftliche Überleben seiner Familie kämpft, durften schließlich jene Auszeichnungen entgegennehmen, für die es in diesem Jahr bedeutend mehr Anwärter gegeben hätte.

Eher überraschend dagegen die Verleihung des Hauptpreises an den brasilianischen Regisseur José Padilha und sein Spielfilmdebüt Tropa De Elite. In Brasilien hat der Film bereits im vergangenen Jahr für Aufsehen und Kontroversen gesorgt. Zunächst machte er als DVD-Raubkopie Furore, dann verfolgte ihn ein Millionenpublikum im Kino.

Der eingangs erwähnte Capitão Nascimento (Wagner Moura) versieht in Tropa De Elite anno 1997 in Rio de Janeiro seinen Dienst bei der Spezialeinheit BOPE, die gegen den Drogenhandel in den Favelas ebenso zu kämpfen hat wie gegen die Korruption innerhalb der Polizei. Aktuell hat der Papst seine Visite angekündigt, und neben dem erhöhten Druck, den dieses Ereignis bedeutet, muss der werdende Vater Nascimento, wenn er seinen Dienst quittieren will, auch noch nach einem verlässlichen Nachfolger suchen.

Dieser komplizierten Ausgangslage und seinem Anspruch, kein schwarz-weißes Bild der Verhältnisse zu zeichnen, sondern vielmehr eine kaum auflösbare, wechselseitige Durchdringung von Gut, Böse und "Gut gemeint" zu beschreiben, wird Tropa De Elite allerdings nur bedingt gerecht.

Zum einen wird Nascimento, dessen Stimme das Geschehen unentwegt aus dem Off begleitet, zur primären Identifikationsfigur aufgebaut und damit doch (s)einer Perspektive gegenüber allen anderen der Vorzug eingeräumt. Zum anderen bedient sich der Film einer Ästhetik (hyperaktive Kamera, rasante Montage, dröhnende Beats), die mehr auf audiovisuelle Überwältigung denn auf Reflexion setzt. In Kombination mit einer gewissen Faszination für die knallharte, ihre Gegner exekutierende Exekutive rückt dies Tropa De Elite – trotz eines überraschenden Foucault-Exkurses – dann doch immer wieder in die Nähe tumber Actionknaller.

Dass man den Prägungen und der Attraktivität des Genrekinos durchaus auch anderes abgewinnen kann, zeigte unter anderem ein ganz kleiner, "armer" Film in der Sektion Forum: Divizionz heißt das Werk eines jungen Kollektivs namens Yes That’s Us aus Kampala in Uganda. Auch dort wollen junge Männer heute oft nichts lieber als mit Ragga und HipHop Karriere machen. Für den immens wichtigen Auftritt in einem Club fehlt noch die CD mit den Tracks, eine Odyssee durch die Stadt beginnt, in deren Verlauf sich ein vermeintlicher Freund und Partner als skrupelloser Verräter erweist.

Divizionz geht es allerdings um mehr als nur darum, jene Gangsta-Posen und anderen Selbstdarstellungen, die nicht zuletzt durchs Kino globale Verbreitung gefunden haben, nun in einem weiteren Kontext nachzustellen. Vielmehr bleiben seine jugendlichen Helden immer in ihren spezifischen Lebenszusammenhang eingebunden – schon gleich zu Beginn, wenn die Kamera einem einschlägig lässigen Fußgänger durch die Lehmgässchen in seiner Nachbarschaft folgt. So kann man durch die Geschichte von den rivalisierenden Jungs hindurch immer wieder ungeahnte dokumentarische Beobachtungen machen.

Entdeckerfreude

In diesem Sinne unterhält Divizionz auch eine Wahlverwandtschaft zu Charles Burnetts bereits Anfang der 80er-Jahre entstandenem und nun restauriertem My Brother’s Wedding, einer der schönsten Entdeckungen, die auf dieser Berlinale zu machen waren:Der US-Filmemacher folgt darin einem jungen Afroamerikaner aus Los Angeles/Inglewood durch den Alltag.

Pierce (Everette Silas) hat Mühe, sich zwischen den Rollenbildern, die Elternhaus, Gesellschaft und Peer Group bieten, einen eigenen Weg zu bahnen: Sein bester Freund ist ein Frauenheld und Delinquent, sein Bruder hat den sicheren Weg in den schwarzen Mittelstand eingeschlagen. Pierce selbst weiß zwar, was er nicht will und warum das so ist. Zugleich fehlt ihm das letzte bisschen Entschlossenheit, um seine Haltung auch gegen den Willen der eigenen Familie zu vertreten. Am Ende hängt Pierce in der Luft. Der, der es zwei Seiten recht machen wollte, hat damit schließlich nur alle enttäuscht.

Noch zu vermelden ist, dass von der Berlinale, wo jedes Jahr nicht nur die Bären vergeben werden, auch Götz Spielmanns Revanche prämiert nach Hause kommt: als "Bester Europäischer Film" in der Sektion Panorama (Europa Cinemas Label), als Empfänger des Art-Cinéma-Awards 2008 (verliehen vom Internationalen Verband der Filmkunsttheater) sowie mit dem Femina-Preis der Filmarbeiterinnen e. V. für Ausstatterin Maria Gruber. (Isabella Reicher, DER STANDARD/Printausgabe, 18.02.2008)