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"Ein charismatischer Redner mit einer Rhetorik, die einem heute ein bisschen hitlerhaft vorkommt." Götz Aly über die 68er-Leitfigur Rudi Dutschke.

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"Ich finde es bedenklich", meint Götz Aly heute, "dass wir Mahnungen, die damals deutlich ausgesprochen wurden, überhört haben und uns stattdessen für so eine totalitäre Figur wie Mao Tse-tung begeistert haben." Unsere Fotos zeigen von links im Uhrzeigersinn: Mao Tse-tung, gemalt von Zhang Fangbai, den "Mahner" Max Horkheimer, den deutschen Kanzler und ehemaligen Nazi-Parteigänger Kurt Georg Kiesinger und eine weitere – umstrittene – Ikone einiger 68er, Pol Pot.

Fotos: EPA / Michael Reynolds; dpa; Reuters
DER STANDARD: Ihr neues Buch nennt sich "Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück". Was war für Sie das Irritierende bei der Beschäftigung mit den Vorgängen vor 40 Jahren, an denen Sie selbst beteiligt waren?

Götz Aly: Mein kritisches und selbstkritisches Verhältnis zu 1968 ist nichts Neues und hat schon Mitte der Siebzigerjahre begonnen. Irritierend und überraschend war für mich während der Archivarbeiten für dieses Buch, dass auf der "Gegenseite" keineswegs nur Hardliner und Postfaschisten am Werk waren, wie wir damals glaubten, sondern sehr vernünftige Menschen. Im Bundeskanzleramt, aber auch im Verfassungsschutz gab es in Deutschland einige sehr aufgeräumte Leute, die erstaunlich hellsichtig über die Revolte nachdachten.

DER STANDARD: Aber es gab doch auch erheblichen reaktionären Widerstand?

Aly: Klar, wenn man an den Berliner Polizeipräsidenten denkt oder manche Beamte im Innenministerium. Andererseits hat zum Beispiel der damalige deutsche Bundeskanzler, der CDU-Politiker und ehemalige NSDAP-Parteigänger Kurt Georg Kiesinger, angesichts der Studentenbewegung jüdische Remigranten wie den Sozialphilosophen Max Horkheimer oder den Politikwissenschafter Richard Löwenthal als Berater geholt und intern sehr verständig über die Jugendrevolte geredet. Das hatte ich nicht erwartet.

DER STANDARD: Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, sich diese ganzen neuen Quellen auch über die Gegenseite anzuschauen?

Aly: Es wurde über 68 bereits sehr viel Papier produziert, mit dem die einstigen Akteure sich selbst bespiegeln. Zudem veröffentlichten die 68er in ihrer aktiven Zeit ständig Broschüren, Zeitungen und Bücher, weil der Offsetdruck gerade billig geworden war. Aber diese Texte bieten immer dasselbe, sie sind langweilig und in einem hypertrophen Ton gehalten, den heute niemand mehr hören will. Ich bin dann einfach ins Bundesarchiv gegangen und habe mir die Akten der Bundesregierung durchgesehen, um in den von den Veteranen elend flach gemalten Historienschinken "Wir, die Helden von 1968" mehr Tiefenperspektive hineinzubekommen. Dabei bin ich auf recht erstaunliche Dinge gestoßen.

DER STANDARD: Welche zum Beispiel?

Aly: Dass die Bundesregierung die Sache sofort sehr ernst nahm und jede Menge Befragungen über die geistige und politische Lage des Landes und der Jugend in Auftrag gegeben hat. Dabei kamen paradoxe Ergebnisse zutage, die zum Teil geheim blieben. So hielt die deutsche Gesamtbevölkerung damals zu über 50Prozent den Nationalsozialismus für eine eigentlich gute, nur in der Durchführung schlecht gemachte Sache. Mehr als die Hälfte war dafür, dass eine Einheitspartei regieren sollte, und über 70 Prozent befürworteten die Todesstrafe. Davon unterschieden sich die Studenten enorm, sie waren demokratisch ausgerichtet. Und im Bundeskanzleramt erkannte man das auch sofort: dass diese kritischen Studenten die eigentlichen Demokraten waren.

DER STANDARD: Dennoch schreiben Sie, es gebe keinen Grund dafür, auf die 68er-Bewegung stolz zu sein.

Aly: Dass sich die Bundesrepublik damals als Ganze veränderte, war nicht das Verdienst einer hyperaktivistischen Minderheit. Die Notwendigkeit zur Veränderung folgte dem künstlichen Koma, in das die Deutschen nach 1945 versetzt worden waren, um sich von ihrer Zerstörungs- und Vernichtungswut zu erholen. Man darf ja nicht vergessen, dass nach dem Ende dieses wahnsinnigen, von Deutschland begonnenen Kriegs 80 Prozent der Zentren der deutschen Städte buchstäblich dem Boden gleichgemacht waren und zwölf Millionen Vertriebene herumsaßen. Vom Ausmaß dieser Lage nach 1945 hat man in Österreich nur eine schwache Vorstellung. Meine These ist nun, dass die Gesellschaft zwanzig Jahre später aus dieser Bewusstlosigkeit erwachte. Das geschah notwendigerweise in einer nicht gerade freundlichen Stimmung, also in Form einer gesamtgesellschaftlichen Orientierungskrise. Die Studenten haben diese Krise aufgrund ihrer privilegierten Situation und ihres Lebensalters bloß etwas extremer ausgelebt. Mehr ist zu 68 eigentlich nicht zu sagen.

DER STANDARD: Die 68er haben doch wichtige Beiträge zur Liberalisierung der Gesellschaft geleistet – egal, ob nun in Sachen Sexualmoral oder neue Werthaltungen.

Aly: Es gibt eine ganze Reihe von Ländern in Europa, die – so wie Österreich – von 1968 lange nicht so erschüttert wurden wie die Bundesrepublik. Deswegen sind die Österreicher, die Schweizer oder die Schweden heute auch nicht verklemmter oder weniger liberal als die Deutschen. Im Übrigen hatten die Bundesregierung und die Länderregierungen zahlreiche Reformen in Deutschland, vor allem auch im Hochschulsektor, schon am Beginn der 1960er-Jahre in Gang gesetzt.

DER STANDARD: Aber wenigstens die Befassung mit der NS-Zeit und die kritische Aufarbeitung der Verbrechen der Vätergeneration werden Sie der Studentenbewegung schwer absprechen können?

Aly: Gerade in dieser Frage ist die Bilanz der 68er-Generation im engeren Sinne katastrophal. In den frühen 1960er-Jahren bis 1966 kümmerten sich Leute wie Reinhard Strecker, der dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund angehörte, um die Bearbeitung der NS-Vergangenheit. Aber als es nach dem Tod von Benno Ohnesorg 1967 so richtig losging, waren diese Themen wie weggeblasen. Ich habe mir die Zeitungen dieser Zeit angeschaut. Da sind fast täglich große Geschichten über die NS-Verbrechen und Nazi-Prozesse zu lesen. Dass die in Gang kamen, war im Übrigen ein Verdienst der Bundesregierung, die damals viel daran setzte, die Verbrecher zu bestrafen und ihre Taten nicht verjähren zu lassen. Von den zahllosen Schriften der Studenten hingegen beschäftigt sich so gut wie keine mit der NS-Zeit.

DER STANDARD: Aber wie ist das zu erklären, dass sich die Studenten nicht dafür interessierten, wie Sie nun behaupten?

Aly: Meine These ist, dass der Staat der Gesellschaft zu viel an Grausamkeiten und Schuld zumutete. Gemessen an den Familien und der Privatsphäre können die staatlichen und justiziellen Anstrengungen zur Bearbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen als beachtlich gelten. Das wurde selbst den kritischen Studenten zu viel. Sie wandten sich ab, transformierten den Nationalsozialismus in einen angeblich internationalen Faschismus, um sich von der Last dieser Geschichte zu befreien. Damit wohnten die schuldbeladenen Nazis nicht mehr nebenan, waren nicht mehr unter den Familienmitgliedern, Nachbarn, den Lehrern oder Vorgesetztzen zu suchen, sondern zu wenig greifbaren "Monopolkapitalisten" gewandelt im fernen Washington oder sonst wo.

DER STANDARD: Apropos: Eine andere Hauptthese Ihres Buches ist, dass es erhebliche Parallelen zwischen der 68er-Bewegung und der 33er-Bewegung gegeben habe. Worauf stützen Sie diese starke Behauptung?

Aly: Ich habe für mein Buch die nationalsozialistischen Studentenblätter daraufhin gelesen, welcher antiautoritärer Protestformen sich die braune Studentenbewegung vor 1933 bedient hatte. Das Thema ist wissenschaftlich bislang nicht ausreichend behandelt. Bei dieser Lektüre stieß ich auf viele Parallelen: der wilde Aktionismus, das Antibürgerliche, der teutonische Furor, der Kampf gegen das Alte, aber für das Neue und Junge, sowie die utopische Ausrichtung auf eine sozial befriedete Gesellschaft – nur dass sie die 33er als rassisch befriedet dachten, während die 68er vorzugsweise auf die Marx’schen Kategorien zurückgriffen. Insgesamt sind die Ähnlichkeiten erschütternd. Der Nationalsozialismus war eben eine Jugenddiktatur, das muss man sich immer wieder klarmachen. Führende Nazis wie Goebbels oder Globocnik, der Gauleiter von Wien – die waren 1933 in ihren Zwanzigern oder frühen Dreißigern.

DER STANDARD: Sind die Unterschiede zwischen den 33ern und den 68ern nicht viel bedeutender?

Aly: Klar. Die wichtigste Differenz liegt auf der Hand: Die Revolte der einen führte rasch zur Macht, zu furchterregenden Karrieren und Konsequenzen; die der anderen endete ebenso rasch in der Niederlage, zumindest in der Zersplitterung. Während die einen fürchterliche Katastrophen angerichtet haben, blieben die 68er eine marginale Erscheinung: ihre Protagonisten verzögerten ihre Berufskarrieren, manche verloren den Anschluss ganz. Aber etwas richtig Gefährliches ist daraus nicht entstanden.

DER STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass die Parallelen schon von den remigrierten jüdischen Sozialwissenschaftern gesehen worden wären.

Aly: Richtig. Leute wie Ernst Fraenkel, Eric Voegelin, Richard Löwenthal oder Max Horkheimer haben rund um 1968 sofort Ähnlichkeiten zu den Aktionsformen der NS-Studenten bemerkt und die Gefahr des Abgleitens einer zunächst basisdemokratischen Bewegung ins Totalitäre gesehen. Ich mache es mir heute zum Vorwurf, oder besser: Ich finde, es sollte festgehalten werden, dass wir diese Mahnungen, die damals deutlich ausgesprochen wurden, überhörten und uns stattdessen für so eine totalitäre Figur wie Mao Tse-tung und am Ende selbst noch für die Kambodschanische Revolution begeistert haben, die vom Völkermörder Pol Pot geleitet wurde.

DER STANDARD: Hätten Sie von deren Verbrechen damals überhaupt wissen können?

Aly: So genau nicht. Aber einiges schon. Ich selber habe jedenfalls all die Informationsmöglichkeiten ausgeschlagen, die ich damals über die chinesische Kulturrevolution hätte haben können. Am selben Institut, an dem ich studierte, dem Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin, lehrte und forschte damals einer der besten China-Experten Deutschlands. Alles, was dieser Mann damals zur Lage in China veröffentlichte, hat sich später als richtig erwiesen. Wir aber haben diesen Gelehrten, er hieß Jürgen Domes, als Reaktionären abgetan.

DER STANDARD: Einer, dem Sie besonders totalitäre Tendenzen nachsagen, ist Rudi Dutschke. Warum?

Aly: Das Dutschke-Bild hat bereits in den letzten zehn Jahren einigen Schaden genommen. Vor allem seitdem die nach undurchsichtigen Kriterien gekürzte Version seiner Tagebücher von seiner Frau Gretchen Dutschke veröffentlich worden ist. Aber selbst in der Version wird dieses Totalitäre und Machtbesessene deutlich sichtbar. Was mich zudem verärgert, ist die Tatsache, dass die Witwe zwar den Nachlass dem Bundesarchiv übergeben, ihn aber für jede Benutzung auf unbestimmte Zeit gesperrt hat. Das halte ich für ein zutiefst antiaufklärerisches Verhalten. Für mich entstand daraus ein zusätzliches Motiv, die zugänglichen Quellen noch genauer anzuschauen.

DER STANDARD: Aber Verbindungen zum militanten Kampf der RAF haben Sie da wohl nicht finden können?

Aly: Es gibt eine Tendenz unter den 68ern, die Tendenz zur Gewalt, die der Studentenbewegung innewohnte, auf die RAF abzuschieben und das angeblich oder tatsächlich Schöne und Emanzipatorische – freie Liebe, antiautoritäres Verändern, politische Partizipation – für sich alleine zu reklamieren. Ich setze dem auf Basis meiner eigenen Erfahrungen und der historischen Quellen entgegen, dass sich die Gewalttätigkeit lange vor der RAF und auf breiter Front entwickelt hat. Und da war Dutschke natürlich mit dabei.

DER STANDARD: Können Sie dafür wenigstens ein Beispiel nennen?

Aly: Ach, da gibt es genug klare Ansagen. Nehmen Sie die Rede, in der Dutschke "Aktionen jenseits des bestehenden Rechts" vorschlug, oder die, in der er auf den Brandanschlag auf den Wiener Justizpalast 1927 Bezug nahm und meinte: "Jeder soll selbst nachdenken." Dass Dutschke bloß den langen Marsch durch die Institutionen propagiert haben sollte, das ist eine hübsche Legende.

DER STANDARD: Dennoch war er bis zum Attentat auf ihn am 11. April 1968 der charismatische Führer der Bewegung.

Aly: Ja. Vor allem erschien er uns als charismatischer Redner. Das Merkwürdige war, man verstand den Inhalt dieser Reden nicht, konnte ihn auch nicht verstehen, sie sollten keinen konkreten Inhalt transportieren, sondern politisch-romantische Erweckung. Betrachtet man sich die Filmaufnahmen dieser Reden heute, kommt einem die Rhetorik aus der historischen Distanz ein bisschen hitlerhaft vor, jedenfalls fremd wie aus einer fernen Kinowelt.

DER STANDARD: Wie können Sie sich das als Historiker und Zeitzeuge erklären?

Aly: Meine These ist, dass wir jungen Leute damals geistig unser Vaterland verlassen wollten und dafür selbst noch die sprachlichen Brücken abbrachen. Am Ende drückten wir uns in einem Kauderwelsch aus, das unsere Eltern und Lehrer, schließlich aber auch wir selbst nicht mehr verstehen konnten.

DER STANDARD: Sie wurden im Mai 1968 21 Jahre alt und waren einigermaßen intensiv verstrickt in die Ereignisse in Berlin. 1976 sind Sie im Zuge des Radikalenerlasses von Ihrem Job suspendiert worden. Wie haben Sie das damals empfunden?

Aly: Ich war erleichtert, weil ich ohnehin schon überlegt hatte, damit aufzuhören. Ich war bis Ende 1973 für eineinhalb Jahre Mitglied der Roten Hilfe gewesen, und diese Organisation war relativ nah am Terrorismus. Ein paar Leute der Roten Hilfe sind selbst Terroristen geworden. Ich habe diese Mitgliedschaft bei einer amtlichen Befragung nicht angegeben, was wahrscheinlich nur der formale Grund für die Entlassung als Heimleiter war.

DER STANDARD: Was haben Sie da gemacht?

Aly: Die Idee war, die jungen Leute im Marcuse’schen Sinn vom falschen Bewusstsein zu befreien. Es hatte aber keine drei Monate gedauert, bis ich sah, dass es keinen Sinn hat, diese Leute gegen den Staat aufzuhetzen. Meine Entlassung wurde ein Jahr später per Gerichtsurteil rückgängig gemacht, ich erhielt meine Bezüge rückerstattet. Ein dreiviertel Jahr später habe ich selbst gekündigt.

(Klaus Taschwer, ALBUM/DER STANDARD, 16./17.02.2008)