Foto: Bullo River
Foto: Bullo River

Hier kommt keiner zufällig vorbei: die Bullo River Station. Hauptverkehrsmittel sind Kleinflugzeug und Helikopter, aber auch Pferd und Quad-bike.

Foto: Bullo River
Grafik: DER STANDARD

Das Ächzen und Klappern des Pick-ups durch die Fahrrillen ist das einzige Geräusch in der Septemberhitze. Nicht einmal leichter Wind weht durchs dürre Gras der Savanne oder ihren losen, ausgetrockneten Baumbestand. So geht es im Schritttempo einen Zaun entlang, der auch dort noch lange nicht endet, wo er einen guten Kilometer vor uns hinter einer Kuppe verschwindet. Lyndon, einer der erfahrenen Stockmen der Bullo River Station, sitzt am Steuer, Nik, ein Grafiker aus Hamburg, der sich für ein Jahr des Reisens und der körperlichen Arbeit Auszeit genommen hat, lehnt neben mir auf der Ladefläche des Allradwagens – und alle drei mustern wir die jeweils nächsten Meter des Zauns auf schadhafte Stellen.

Seit gut zwei, vermutlich sogar drei Stunden sind wir an diesem Vormittag bereits unterwegs. Wollte ich es – wie immer ohne Uhr – auf die Minute genau wissen, müsste ich nur Lyndon fragen, dem die Sonne und die Länge der Schatten der knorrigen Savannenbäume reichen, um sich kaum mehr als zwei, drei Minuten zu verschätzen. Dass seine Interpretationen anderer Erscheinungen der Wirklichkeit wie etwa dieses oder jenes Kraters, der natürlich nichts anderes als eine Ufo-Landestelle sein könne, weit weniger beweisbar sind, wird hingegen erst einige Zeit später hinter der Kuppe klar, wo wir im Baumschatten eines um diese Jahreszeit ausgetrockneten Flüsschens unsere Mittagspause halten. Noch aber ist es nicht so weit. Trotz sengender Hitze steigt die Sonne höher und höher. Eine knappe Dreiviertelstunde hat am Morgen die Herfahrt vom Homestead der Station über die rotsandigen Dirt-Roads gedauert. Jetzt wirbelt der Wagen keinen Staub mehr auf, stattdessen hat Nik erneut ein Loch entdeckt. Ein Metallpflock hat sich aus dem Boden gelöst, liegt auf dem Boden, der Stacheldraht ist gerissen, und der gut ausgetretene Pfad im hellbraun verdorrten Savannengras zeigt, dass den Rindern der neue Durchgang gefallen hat. Dabei wäre der Zaun, den wir hier für das bevorstehende Mustering reparieren, ohnedies auch anders zu umgehen, grenzt er doch kein eigenes Weidegebiet ein, sondern ist nur Teil eines Trichters, durch den Rinder nächste Woche in die zum ersten Mal in derart großer Entfernung von der Station errichteten mobilen Mustering-Yards getrieben werden.

Sieben Tonnen massives Gestänge, das von Lyndon, Nik und dem Rest der Bullo-Crew im vergangenen Monat hierhergekarrt worden war, um auch an Rinder heranzukommen, die bislang nicht oder nur durch Zufall sortiert, gezählt und gebrandmarkt werden konnten. Vieh, das zum Teil noch nie einen Menschen zu Gesicht bekommen hat, dementsprechend unberechenbar und gefährlich, doch mithilfe des auf der Bullo River Station entwickelten Low-Stress-Handeling weit besser in Griff zu bekommen als mit den früher üblichen Brachialmethoden.

Jetzt steckt der herausgerissene Pflock wieder im Savannenboden, die drei Reihen Stacheldraht wurden von Lyndon in scheinbar einfacher Handbewegung mit dem langstieligen Drahtstrecker gespannt, Nik und ich verstauen die Geräte, und der Pick-up setzt sich in Bewegung. Gerade einmal einen halben Kilometer haben wir in diesen ersten Stunden geschafft. Mindestens zwei, wenn nicht drei Kilometer sind es noch, wie Lyndon weiß, der die Strecke am Vortag mit dem Squad-Bike inspiziert hatte.

Da war ich, um auf Bullo River, dieser allein aufgrund seiner wechselvollen Familiengeschichte (vgl. unten stehender Literaturtipp) zur australischen Legende gewordenen Station zu gelangen, erst mit einer kleinen Boeing der Airnorth von Darwin nach Kununurra unterwegs gewesen. Abflug um 10.40 Uhr, und Ankunft – aufgrund der Zeitverschiebung – um 10.10 Uhr. Der Flughafen des 3000-Einwohner-Städtchens im Westen Nordaustraliens erinnerte an spanische Busbahnhöfe, die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel. Und wenn Kununurra tatsächlich der Bullo River nächstgelegene Ort sein sollte, bekam man bereits vor der Begegnung mit der Station einen ersten, noch unnennbaren, doch umso deutlicheren Eindruck dessen, was der Begriff "remoteness" beschreibt.

Eine Abgeschiedenheit, über die es in der für Aufenthalte im eleganten Gästehaus gestalteten Broschüre trocken heißt: "Bullo River Station is not the kind of place you just stumble across." Und noch viel mehr gilt das für einen Ort, der einem auf solche Weise sogar Heimat wird. Zufällig, wie es Franz Ranacher, dem jetzigen Mitbesitzer, als arbeitsuchendem Reisenden vor mehr als 15 Jahren geschehen war. Weitab von den Berghängen über dem Millstättersee, dem Bauernhof der Eltern, der eigenen Sprache oder aber auch Jahreszeiten wie Frühling, Herbst und Winter, als er Marlee Henderson, die älteste Tochter der Stationgründer, kennenlernte.

Doch vermutlich ist Heimat – abgesehen vom Zufall solcher Liebe – ohnedies nie eine bestimmte Gegend oder Sprache allein, sondern vielmehr das tagtägliche Leben und die ständige Arbeit mit und an ihr. Und so meinte Franz Ranacher zu Beginn des halbstündigen Flugs nach Bullo River auch auf die Frage, ob nicht eine ganze Welt zwischen einem Bauernhof mit vielleicht 30 Kühen und einer Sta-tion mit 7000 Tieren liege: "Cattle are cattle – everywhere."

Währenddessen flogen wir hoch über dem Rot der schroffen, locker bewachsenen Savannenlandschaft, die unterbrochen durch can-yonartig eingeschnittene Wasserläufe nicht nur fremdartig, sondern regelrecht existenzabweisend wirkte. Seitenwind kam auf. Nachmittags sei um diese Jahrezeit der Wind meist noch stärker, kommentierte Franz über Kopfhörer-Funk die im kleinen Flugzeug sehr deutlich spürbare Brise. Und während er das vor uns liegende Gebiet der Station nach Schwaden etwaiger Savannenbrände absuchte, bot er mir an, das Flugzeug für eine Zeitlang vom Kopiloten-Steuer aus zu fliegen. Kurze Erklärungen noch, wie man die Cessna auch ohne Kenntnis der Anzeigen auf richtiger Höhe hält, und dann ist es Luft, nichts anderes, die man in den millimeterkleinen Bewegungen des Steuers direkt mit Händen zu greifen vermeint. Nicht nur in kleinen Strömungsunterschieden oder gar dem tatsächlich langsam zunehmenden Seitenwind, sondern allein in der Tatsache, wie stark sich selbst winzige Steuerbewegungen auf Flughöhe oder -richtung auswirken, so- dass man das Steuer schließlich ganz leicht hält, um nicht auch das eigene Atmen oder kurzes Zittern am ganzen Flugzeug wiederzubemerken.

Als dann der großzügige Homestead der Bullo River Station in Sicht kam, übernahm wieder Franz. Auf dem Flugfeld davor weideten Rinder, sie schienen im Flugverkehr jedoch bestens bewandert, so selbstverständlich wichen sie unserem Anflug aus. Und genauso alltäglich wie derartiger Flugverkehr zum Leben der Station gehört, ist hier auch, dass selbst die Schule den Luftweg nimmt: School of Air genannt, kam sie früher mittels Radio, heute per Internet. Auch an diesem Nachmittag. Und so saß Franzie, der jüngere der beiden Ranacher-Buben, vor dem Bildschirm, auf dem die Lehrerin in der gut 450 Kilometer entfernten Kleinstadt Katherine den Cartoonisten Joffa vorstellte, der in der nächsten halben Stunde mit der auf einen Umkreis von annähernd tausend Kilometern verteilten Schulklasse ein Mädchen mit Zöpfen und Riesenschuhen zeichnete.

Während Ben am anderen Schreibtisch mit gelegentlicher Hilfe der für die beiden Buben beschäftigten Tutorin seine Hausaufgaben machte. Joffa, der dann in der zweiten Stundenhälfte mit Bens Alterstufe ein Ufo entwarf (denn bei einem Ufo, wie Joffa gleich zu Beginn meinte, kann man nichts falsch machen, da niemand – außer Lyndon, doch den kennt Joffa nicht ... – weiß, wie es in Wirklichkeit aussieht), gab aber auch Franzie und seinen jüngeren Mitschülern nicht einfach vor, was sie zu zeichnen haben, sondern zeigte ihnen immer wieder abweichende Möglichkeiten auf oder stellte Fragen, wie es weitergehen könnte, auf die per Mausklick geantwortet werden kann. Und dabei wird über die Computer-Lautsprecher nicht nur die Stimme des jeweiligen Kindes für alle anderen hörbar, sondern taucht dazu auch sein oder ihr Gesicht auf allen Bildschirmen auf.

An den kaum vorstellbaren Distanzen zwischen den Klassenkollegen ändert das zwar nichts. Doch vielleicht ist das auch nicht notwendig in einer Welt, in der Abgeschiedenheit Nähe und Weite gleichzeitig bedeutet. Zumindest ging einem dieser Gedanke am Ankunftsabend durch den Kopf, während man miterlebte, wie ernsthaft und doch leicht am großen Tisch des Homesteads, an dem die Ranachers immer gemeinsam (im Unterschied zu den meisten anderen Stations) mit ihren Mitarbeitern essen, die Arbeit des vergangenen Tags und die des nächsten besprochen wird. Wie etwa aufgrund Lyndons Bericht auch die Reparatur eines weit entfernten Zauns. (Martin Prinz/DER STANDARD/Rondo/15.2.2008)

Fotos: Bullo River