"In Wien gibt es keine Ghettos": Ursula Reeger

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In Wien gebe es zwar keine Ghettos, aber in manchen Gebieten eine deutliche Konzentration von Zuwanderern, sagt Raumplanerin Ursula Reeger im derStandard.at-Gespräch. Der Grund: Neuankömmlinge aus Nicht-EU-Ländern könnten sich nur die billigsten Wohnungen leisten, und während ÖsterreicherInnen mit ähnlich geringem Einkommen bisher auch günstigere Gemeindebauten offen standen, haben MigrantInnen diese Option erst seit relativ kurzer Zeit. Um einen besseren Mix zu erreichen, sollten mehr Inländer in "Ausländerbezirke" ziehen, fordert Reeger. Die Fragen stellte Maria Sterkl.

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derStandard.at: Warum sind die Zuwanderer in Wien so stark auf bestimmte Bezirke konzentriert?

Reeger: Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen. Neuzuwanderer gehen meistens dorthin, wo schon Landsleute leben. Da gibt es Hilfestellung bei der Wohnungssuche, es gibt Informationen. Und ich glaube, dass jeder ausgewanderte Mensch durchaus Interesse hat, mit Landsleuten zusammen zu sein, weil er sich erhofft, dass sie ihm helfen. Diese Netzwerke sind wichtig. Es ist ein Kreislauf: Schon länger hier lebende Zuwanderer ziehen teilweise weg von dort, und neue kommen nach. Deshalb bleibt die Konzentration bestehen.

derStandard.at: Warum gerade Rudolfheim-Fünfhaus oder Ottakring?

Reeger: Das liegt am in Privatbesitz befindlichen gründerzeitlichen Baubestand. Das war der einzige Bereich am Wohnungsmarkt, der den ersten Gastarbeitern, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren nach Wien gekommen sind, zugänglich war. Gemeindebauten standen Migranten damals ja noch nicht offen, und Genossenschafts - oder Eigentumswohnungen waren einfach nicht erschwinglich.

derStandard.at: Kann man hier schon von Ghettos sprechen?

Reeger: Nein - in Wien gibt es keine Ghettos. Es gibt Gebiete mit stärkeren Konzentrationen von Zuwanderern, es gibt Segregation, aber keine Ghettos. Segregation hat ja auch Vorteile. Längerfristig ist Segregation der Integration aber nicht sehr förderlich, weil der Spracherwerb behindert wird, weil es nicht so viele Kontakte mit Österreichern gibt. Aber das ist nicht nur eine Frage der Gastarbeiterbezirke. Niemand spricht darüber, wie stark die Zuwanderer aus den alten EU-Staaten in Hietzing und Döbling segregiert sind.

derStandard.at: Sie sprechen vom "Stigma des Ausländerhauses". Warum?

Reeger: Viele dieser Häuser sind in einem schlechten Zustand, wir haben es teilweise mit desolaten, beengten Verhältnissen zu tun, die vielfach überteuert angeboten werden. Wer er sich leisten kann, zieht weg von dort. In Wien sind das zum Beispiel Häuser in den Gebieten entlang des Gürtels, wo einfach nicht so viel investiert wird. Leerstehende Wohnungen werden da wieder an neue Zuwanderer vermietet, die nicht viel Geld haben. So perpetuiert sich das.

derStandard.at: Warum wird so wenig saniert?

Reeger: Das ist die Henne-Ei-Frage. Zuwanderer lassen sich ja auch genau dort nieder, weil es am billigsten ist. Und man kann den Hauseigentümern nicht einseitig die Schuld geben – es wäre durchaus eine politische Aufgabe, den Hausbesitzern mehr Anreize für Sanierungen zu geben.

derStandard.at: Leben Zuwandererfamilien aus dem Arbeitermilieu unter schlechteren Bedingungen als österreichische Geringverdiener? Oder ist das Wohnen im Substandard eher eine Frage des Wohlstands als eine der Herkunft?

Reeger: Im Gegenteil - die Unterschiede sind eklatant (siehe Wissen, Anm.). Die Gemeindebauten sind ja erst seit 2006 für ausländische Staatsbürger zugänglich. Viele Zuwanderer haben sich aus finanziellen Gründen in den Substandardwohnungen adaptiert und wohnen dort immer noch günstiger. Migranten aus Ex-Jugoslawien und der Türkei sind ja auch in einem viel höheren Maß armutsgefährdet als durchschnittliche Österreicher.

derStandard.at: Ist es möglich, dass sich manche dieser Familien zwar durchaus bessere Wohnungen leisten könnten, aber das ersparte Geld lieber in neuen Wohnraum im Herkunftsland investieren? Der Kebabverkäufer als Häuslbauer in Anatolien?

Reeger: Vor der Einbürgerung spielt dieser Effekt eine gewisse Rolle. Solange mir immer noch vorschwebt, wieder zurück zu gehen, werde ich für Wohnen sicher weniger investieren wollen. Aber man sieht, dass einige Zuwanderer nach der Einbürgerung in bessere Wohnungen ziehen.

derStandard.at: Was kann die Politik tun, um einen ausgewogenen Mix zu ermöglichen?

Reeger: Es muss finanzielle Anreize für die Gebäudesanierung geben, und die Kommunalpolitik muss über Infrastrukturmaßnahmen die Qualität des Wohnumfelds erhöhen und hoffen, dass die privaten Hauseigentümer mitziehen. In Wien ist der Brunnenmarkt ein gutes Beispiel: Rund um den Yppenplatz ist – auch kulturell - viel investiert worden. Dadurch ist das Gebiet mittlerweile zu einer attraktiven Wohngegend geworden.

derStandard.at: Also Inländer rein in die Ausländerbezirke?

Reeger: Ja. In Wien das funktioniert zum Teil ja schon recht gut.

derStandard.at: Besteht nicht die Gefahr, dass durch diese Wertsteigerungen arme Zuwandererschichten in die Peripherie verdrängt werden?

Reeger: Das ist möglich, und das ist ein zweischneidiges Schwert. Aber seit 2006 sind ja auch die Gemeindebauten offen, und dadurch hat sich den Migranten ein großes Wohnungsfeld erschlossen. Die Gemeinde Wien ist der größte Wohnungseigentümer in Europa. Und der Gemeindebau ist über die Stadt relativ gleich verteilt. Entwicklungen wie in Paris, wo man Migranten einfach an den Rand der Stadt gesetzt und völlig sich selbst überlassen hat, gibt es in Wien zum Glück nicht. Man sollte aber versuchen, die ökonomische Marginalisierung der Migranten aufzubrechen. Vor allem in der zweiten Generation: Bildung, Bildung, Bildung. Das bringt bessere Chancen am Arbeitsmarkt, ein höheres Einkommen und als Folge mehr Bewegungsfreiheit am Wohnungsmarkt. (Maria Sterkl, derStandard.at, 12.2.2008)