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Florian Havemann attackiert die DDR-Dissidenten.

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Immer dann, wenn sich Florian Havemann (56), der Sohn des berühmten DDR-Dissidenten Robert Havemann, auf besonders dünnes Eis hinauswagt, die Faktendecke unter seinen wie atemlos herausgepressten Sätzen bedrohlich zu knirschen anfängt - dann könnte alles so, aber auch ganz anders gewesen sein.

Havemann - eine biografische Abrechnung mit den Gespenstern der Herkunft, eine Prosalawine aus 1100 Seiten, die Suhrkamp zu einem DDR-grauen Ziegel zusammengepresst hat, ist das wildeste, mit Sicherheit aber das absonderlichste Buch der Saison. Ein recht unbegreiflicher Wälzer. Seit kurzem auch ein ungreifbarer: Suhrkamp zog die vor Hass überschäumende Schrift soeben aus dem Handel, nachdem sieben Privatpersonen, darunter die Geschwister des Gelegenheitskünstlers mit dem in Ostdeutschland wohlklingenden Namen, diverse Abänderungswünsche deponiert hatten.

Einige "Hauptangeklagte", von Havemann junior bis zum Scheitel in Unflat getaucht, hatten auf gerichtliche Händel vorsorglich verzichtet. Prominentester Betroffener ist einer, der von rechtsfreundlicher Beratung gleich ganz absah. Der Liedermacher Wolf Biermann war bis zu seiner Ausbürgerung 1976 der innigste Vertraute der Sippe Havemann. Für ihn ist "Flori", der Rachegeist, der ihn nach gut 30 Jahren der größten Ungeheuerlichkeiten, darunter des Beischlafs mit Margot Honecker bezichtigt, ein "tragischer Fall". Das Erscheinen des Buches quittierte er damit, dass den Leser nichts anderes als "gequirlte Scheiße" erwarte.

Ohne über die besondere Beschaffenheit des Rührstabs nachsinnen zu wollen: Florian Havemann ist ein Opfer. Das mittlere dreier Havemann-Kinder erlebte, wie der Vater, ein angesehener Naturwissenschafter mit den Meriten eines von den Nazis zu Tode Verurteilten, der Betongesinnung der SED-Bonzokratie abschwor, woraufhin er mit Entlassung und zeitweiligem Hausarrest bestraft wurde. Havemann senior wurde für viele zum Symbol: Mit diversen materiellen Privilegien versehen, saß der ehemalige Zuarbeiter der "Komintern" die Schikanen des Systems untätig aus. Insbesondere der Westen richtete sein Augenmerk auf den "Philosophen", der sich in seinen wenigen Schriften früh den Kopf über die Zukunft der Industriegesellschaften, ob sozialistisch oder nicht, zerbrach.

Sein Sohn sagt ihm nach Verstreichen eines Vierteljahrhunderts (Robert Havemann starb 1982) nun diverse Schmutzigkeiten nach und beschuldigt ihn schlimmster Charaktermängel. Gesoffen habe er, jungen Frauen nachgestellt. Möglicherweise soll er mit Florians Schwester Unzucht getrieben haben. Man hätte sich als Leser gerne von einigen der wildesten Andeutungen verschont gewusst, und man glaubt sich in einen Albtraum versetzt: So toll trieben es also die Arbeiter und Bauern in ihrem Zonenbordell! Man beginnt vage zu begreifen, dass unter solchen trüben Voraussetzungen an den geordneten Aufbau eines leistungsfähigen Sozialismus kaum zu denken war.

Aber jeder Anflug von Ironie verbietet sich - angesichts des Schmerzenstöne einer Tirade, die von den Lieblosigkeiten eines Bürgerrechtlers handelt und doch mehr meint als lediglich die besonders hässlichen Schmutzflecken auf sozialistisch knitternden Bettlaken. "Flori" geriet 1968 mit dem System in Konflikt, wanderte in den Bau, ehe er 1971 schließlich in den Westen "rübermachte".

Den bittersten Schimpf - so empfand es Florian - tat ihm ausgerechnet der damals geliebte Biermann an: Er sang dem "Republikflüchtling" ein garstiges Lied hinterher: "Wer abhaut aus dem Osten, der ist auf unsere Kosten von sich selber abgehaun ..."

Ist es verwunderlich, dass Florian Havemanns Künstlerkarriere trotz bester, von allen Seiten konzedierter Voraussetzungen nicht recht in die Gänge kam? Das Ringen um die Definitionshoheit über längst Verflossenes spiegelt einen anderen, sehr viel schmerzlicheren Prozess wider.

Die Rückeroberung der Erinnerung wird von diesem so maß- wie pietätlosen Autor, der übrigens 2002 als PDS-Vertreter für den Bundestag kandidierte, der als Partei-Laienvertreter im Verfassungslandesgericht Brandenburg sitzt, als subjektive Abrechnung inszeniert. Statt alte Staatssicherheitsakten zu wälzen, beruft sich Florian Havemann lieber auf sein Gedächtnis, wenn er den Popanz des Vaters zu beseitigen trachtet.

Was aber hat ausgerechnet die Literatur mit einem "Vaterrufmord" zu schaffen, dessen Schäden Suhrkamp, offensichtlich ums Renommee besorgt, insofern zu begrenzen hofft, als man die Veröffentlichung einer "geschwärzten" Textfassung im Netz ankündigt? Die Kulturindustrie der Nachwendezeit hatte aus den Überresten der alten DDR reichlich unbedenklich ein Wohlfühlbiotop zusammengezimmert. Lustig waren sie angeblich, die Zeiten, als man im Trabi auf den FKK-Strand tuckerte und da-zu reichlich Spreewaldgurken aß.

Autoren wie der unglückliche Florian Havemann setzen sich, ob unbewusst oder nicht, gegen die Verniedlichung unlebbarer Verhältnisse mit verzweifelter Nachträglichkeit - und ohne Rücksicht auf allfällige Verluste - zur Wehr.

Erinnert sei an die Tagebuchexzesse des bereits verstorbenen Regieeinzelgängers Einar Schleef: Auch dieser musste seine Eigenart nicht nur gegen die "verlorene" DDR, sondern auch gegen die nachschwappenden Zudringlichkeiten der westlichen Konsumkultur verteidigen.

Glücklich wurden diese Gefallenen hüben wie drüben nicht. Aber ihre Stimmen, von der Schizophrenie ihrer Lebenserfahrungen unheilvoll belegt, blieben im Konzert der Gutgelaunten überwiegend ungehört. Was passieren wird? Florian Havemann wird weitere tausende Exemplare seines - dann überarbeiteten - Buches verkaufen. Ob er jemals Frieden finden wird, scheint derweil unklar. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 09/10.02.2008)