Wien – Der junge Goethe investierte in die Niederschrift seines Clavigo im Mai 1774 gerade einmal acht Tage. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass der damalige Stürmer und Dränger mit dem Porträt dieses extrem wankelmütigen Karrieristen, der von je wechselnden Einflüsterungen sein Lebensglück abhängig macht, ein Selbstporträt verfasst hat.
Clavigo verrät ein Mädchen – trotz des gegebenen Eheversprechens. Er wünscht zugleich, eine schöne Seele nicht nur zu sein, sondern als sittlicher Mensch anerkannt zu werden. Verantwortung ist ihm, der gemäßigt aufklärerische Schriften für den spanischen Königshof verfasst, ein labiles Gut. Vom Bruder der Verlobten gedrängt, gibt er sich plötzlich "entschlossen, Marien zu heiraten, freiwillig aus innerm Trieb."
Doch wie verantwortlich können Menschen handeln, die zugleich den Anspruch auf ihr Glück propagieren? Clavigo, der im Wiener Volkstheater in der Regie von Stephan Müller morgen Premiere hat (19.30 Uhr), zeigt einen Lohnschreiber in der Bredouille. Der Marie sitzen lässt. Oder, wie der Schweizer Regisseur Stephan Müller sagt: "Jede Figur ist in Clavigo zerrissen. Einen solchen Befund kann man ohne weiteres mit den psychoanalytischen Einsichten von Sigmund Freud oder Jacques Lacan aufladen."
Trifft man Müller (56) in den Club-Räumlichkeiten eines imperial anmutenden Hotel-Foyers, glaubt man an einen heiteren Privatgelehrten geraten zu sein. Mit feiner Federschrift hat Müller, über mehrere Jahre Leiter des Burgtheater-Kasinos am Schwarzenbergplatz, seine Einsichten und Regie-Anmerkungen zu Clavigo zu Papier gebracht.
Geht er auf die Probe, erzählt Müller, trägt er eine Reihe von "Formeln" mit sich. "Formeln sind eine Ballung aus Wissen und Energie, die mich ständig in Gang halten." Er wirft sie den Schauspielern bereits aus Anlass der ersten Arbeitsbegegnungen wie Lesefutterproben an den Kopf (Raphael von Bargen spielt im Volkstheater den Clavigo). Ob er damit schöne Wirkungen erziele? Müller: "Die Schauspieler bekommen ein gewisses Ahnungsfeld vermittelt."
Wenn er seine Absichten zu vermitteln verstehe – und Müller spricht in druckreifen, wenngleich schwyzerdütsch schattierten Sentenzen –, herrsche bei der Arbeit "so eine Art Brecht’sche Begeisterung der Sachlichkeit." Wie heißen denn nun aber die Formeln? Erstens: Goethe schrieb den Satz: "Der Wahn hat, so lange er andauert, eine unüberwindliche Wahrheit."
Lauter Gutmenschen?
Wir Wohlstandsmenschen glaubten uns allesamt von Wahrheit beseelt. Gehuldigt würde der Freiheit, der Liebe, der Rache, der Rettung. Andererseits etabliere Goethe in seinem Clavigo eine "Achse des Guten": Jeder trägt sich mit den besten Absichten. Jeder manipuliert sein Gegenüber: schwatzt ihm Gründe auf, trägt sich großspurig mit Un_eigennützigkeit. Am Schluss stehen die Überlebenden über Leichname gebeugt, und keiner vermag den Undank der doch so glücklich eingerichteten Welt so recht zu fassen.
Punkt zwei: "Liebe bedeutet: das Schicksal des andern werden zu wollen." Diesen Satz bezieht Müller aus der Denkerschmiede des großen Postmodernen Jean Baudrillard. Clavigo versammelt lauter Wichtigtuer. Oder eben: Alle wollen das Gute. Es endet nur leider im Gegenteil.
Doch was wäre dieses "es"? Wer es mit Müller aufnimmt, sollte die Psychoanalytiker studiert haben. Er stellt fest: "Alle, auch Clavigo und sein Ohrenbläser Carlos, sind von Fülle und Lücke, von Mangel und von Behauptungen besiedelt. Jede Figur ändert im Lauf der Dinge ihre Meinung zum Gegenstand fundamental ins Gegenteil."