Jeder zweite Schüler hat gesundheitliche Probleme - vor allem wegen Schulstress.

Foto: derStandard.at

Joachim Bauer fordert kleinere Klassen sowie mehr Musik und Bewegung in der Schule. Dabei stützt er sich auf Erkenntnisse der Neurobiologie.

Foto: Markus Peherstorfer
Salzburg – 51 Prozent der Schüler berichteten bei einer Untersuchung in Stuttgart von chronischen psychosomatischen Beschwerden; und bei einer Studie in Aachen wurden bei über 14 Prozent "harte psychiatrische Erkrankungen" festgestellt, berichtet der Freiburger Psychiater Joachim Bauer. Sein Befund: "Wir haben eine riesige Beeinträchtigung der medizinischen und psychologischen Schülergesundheit." Kein Vertrauen in Schule

Die beiden Hauptprobleme aus Sicht der Lehrer seien destruktives Schülerverhalten und zu große Klassen, zitiert Bauer weitere Umfrageergebnisse. Dazu kämen große Probleme bei der Kommunikation zwischen Schulen und Eltern: "Es gibt viele Eltern, die glauben, sie müssten ihre Kinder vor der Schule gewissermaßen retten." So könnten Kinder aber nicht das nötige Grundvertrauen der Schule gegenüber aufbringen.

Leistungskontrollen helfen nicht

In einem brechend vollen Hörsaal der Pädagogischen Hochschule in Salzburg versuchte der bekannte Buchautor ("Warum ich fühle, was du fühlst", "Prinzip Menschlichkeit", "Lob der Schule") am 24. Jänner in einem Vortrag, den Problemen der Schule aus neurobiologischer Sicht auf den Grund zu gehen. Das sei auch nötig, denn immer mehr Leistungskontrollen allein führten nicht zu besseren Ergebnissen: "Vom vielen Wiegen wird die Sau nicht fett."

Für Freude am Lernen

Erster Ansatzpunkt sind für Bauer dabei die Motivationssysteme des Mittelhirns. Sie würden von drei Arten von Botenstoffen gesteuert: Dopamin sorge für Tatendrang, Opioide für Freude am Tun und Oxytozin steigere die Vertrauensbereitschaft. Wirken alle drei zusammen, seien die besten Lernbedingungen gegeben. Es sei wichtig, dass Kinder Freude am Lernen hätten, sagt Bauer: "Viele meinen, dass es ein Ausdruck von Fleiß und Leistungsbereitschaft ist, wenn man immer griesgrämig herumläuft. Das Gehirn ist überhaupt nicht dieser Meinung."

"Nicht in Watte gepackt"

Bester Auslöser für die Botenstoffe der Motivationssysteme sind nach neurobiologischen Erkenntnissen Anerkennung, Beachtung und Sympathie durch Mitmenschen. Damit solle aber nicht einer Kuschelpädagogik das Wort geredet werden, sagt Bauer: "Anerkennung und Beachtung heißt nicht, immer in Watte gepackt zu werden. Das ist ein Missverständnis." Es gehe darum, die Schüler als Persönlichkeiten ernst zu nehmen. Daneben könnten auch Bewegung und Musik Motivation auslösen. Mehr Sport, Musik, Tanz und Theater in der Schule seien vonnöten, schließt Bauer.

"Auge im Orkan"

Den zweiten neurobiologischen Ansatzpunkt in Bauers Analyse bilden die so genannten Spiegelneuronen. Das sind etwa 15 Prozent aller Nervenzellen, die neben ihren gewöhnlichen Aufgaben noch eine zusätzliche Funktion haben: Sie simulieren im Hirn jene Erlebnisse und Empfindungen, die gerade bei Mitmenschen beobachtet werden, fühlen sich also in andere Individuen ein. Damit sind sie laut Joachim Bauer die Grundlage für das Lernen am Modell und "das Auge im Orkan der Pädagogik": "Der Erwachsene muss wollen, dass das Kind etwas leistet, sonst kann das Kind nichts leisten wollen."

Drei Fragen

Kinder hätten ein Auge für die oft unbewussten Reaktionen Erwachsener auf ihr Verhalten. Die richtige Körpersprache sei daher vor allem für Lehrer enorm wichtig, sagt Bauer. Das Kind suche nach drei Auskünften. Erstens: "Nimmst du mich überhaupt wahr? Bin ich für dich jemand?" Das sei aber das Sparprogramm, allein reiche das nicht aus. Zweitens: "Sag mir, wer ich bin. Ordne mich irgendwie ein." Hier sei der Ansatzpunkt für konstruktive Kritik. Und drittens: "Zeig mir, was ich werden kann, was meine Potenziale sind, was du mir zutraust." Zwischen den Zeilen merke das Kind, ob der Lehrer an dessen Zukunft glaube.

Ausgrenzung macht aggressiv

Auslöser für destruktive Aggression sei – neben aktuell zugefügtem körperlichem Schmerz und früheren Gewalterfahrungen – vor allem auch soziale Ausgrenzung. Die Nichtbeachtung durch Mitmenschen könne im Hirn die gleichen Reaktionen auslösen wie eine Verbrennung an der Hand, wie Bauer anhand von Untersuchungen im Kernspin-Tomographen demonstriert.

Kleinere Klassen gefordert

Bauers wichtigste Schlussfolgerung: Er gehöre "zu den altmodischen Fossilen, die der Meinung sind, dass kleine Klassen immer noch eine wichtige Bedingung sind für gute Bildung". Kleinere Gruppengrößen erhöhten die Chance der Schüler, als Individuen vom Lehrer beachtet zu werden. Außerdem müsse die pädagogische Bildung eine breiteren Raum in der Lehrerausbildung einnehmen. Sie sei im Moment vor allem in der universitären Ausbildung von Lehrern höherer Schulen unterrepräsentiert.

Ganztagsunterricht mit Kreativphasen

Weiters tritt Bauer für eine "Dekomprimierung des Vormittagsunterrichts" ein, die Verteilung des fordernden Lernstoffs auf den ganzen Tag. Das solle aber nicht dazu führen, erläutert der Psychiater, "dass wir ganztags den gleichen Schwachsinn machen, den wir jetzt am Vormittag haben". Abwechslung zwischen intensiven Lernphasen und motivierenden Gemeinschaftserlebnissen mit Musik und Bewegung sei gefragt.

Mehr Zusammenarbeit mit Eltern Und auch die Kooperation zwischen Schule und Elternhaus müsse verbessert werden. Eine Möglichkeit dazu wären Erziehungsvereinbarungen oder Schulverträge, in denen beide Seiten ihre gegenseitigen Verpflichtungen festschreiben, schlägt Bauer vor. Dazu gehöre etwa, dass Eltern jeden Tag ihre Kinder danach fragen, was in der Schule gemacht worden sei, und dass sie für ausreichenden Schlaf und ein Frühstück vor Schulbeginn sorgen. Auch Fernseher hätten bei Unter-Zwölfjährigen im Kinderzimmer nichts verloren. Umgekehrt sollten die Lehrer stets für Gespräche zur Verfügung stehen und zumindest zweimal im Jahr gemeinsam mit den Eltern Schulveranstaltungen organisieren, um ins Gespräch zu kommen und "eine Corporate Identity als gemeinsame Schule entwickeln". (Markus Peherstorfer/derStandard.at, 28. Jänner 2008)