Den Freeridern dienen sie als gangbare Aufstiegshilfe zu den Graubündner Bergen um Scuol. Schneeschuhe und das Gehen sind für viele Wanderer im Plavnatal allerdings Selbstzweck genug.

Foto: swiss-image.ch/Christof Sonderegger
Über das Unterengadin spannt sich ein blauer Postkartenhimmel, eben erreichen die ersten Sonnenstrahlen die im Gegenlicht glitzernden Dächer von Fontana Tarasp. In der Nacht hat es ein wenig geschneit, jetzt knirscht der Neuschnee unter den Sohlen, die Luft ist trocken und kalt.

Vor dem Aufbrechen gibt Lukas Barth noch rasch ein paar Hinweise zu den Tücken des Materials. Von Sportausrüstung versteht der ehemalige Rennpaddler aus Basel viel. Denn seit er vor einigen Jahren mit dem Leistungssport aufhörte, arbeitet der 36-jährige studierte Biologe als Outdoorunternehmer im Unteren Engadin und organisiert unter anderem Schneeschuhtouren.

Stoisch stapfen die Wanderer nun in Richtung Plavnatal durch einen schütteren Fichtenwald, den Blick auf den Mot Fuorcla gerichtet. Gemessen an den Dreitausenderriesen ringsum ist der Mot Fourcla mit seinen knapp 2200 Metern ein eher kleinwüchsiger und technisch anspruchsloser Engadiner Gipfel. Aber als Belohnung verheißt Lukas Barth ein grandioses Panorama und vor allem tiefe Genugtuung über die erbrachte Leistung. Doch zunächst geht es am oberen Ortsende des 300-Seelen-Dorfes vorbei.

Schlitten passé

Am Wegrand liegen übereinandergeschichtete Baumstämme, auf den Wiesen ducken sich windschiefe Holzhütten, in denen die Bauern früher das Heu lagerten. Zu mächtigen Ballen verschnürt, zogen sie es im Winter auf ihren Schlitten ins Tal. Heute sind die meisten Bergwiesen durch Fortstraßen erschlossen, viele werden nur mehr als Weiden genutzt.

Mittlerweile sind rund 300 von 800 Höhenmetern zurückgelegt. Weiter den Bachlauf entlang kommt man zur Fuorchetta de la Val da Botsch, von dort führt ein Übergang zum Ofenpass und dann ins Münstertal hinab. In weiten Schleifen schlängelt sich der Pfad hoch zur Alp Laisch. Vor einigen Jahren, erzählt Lukas Barth, habe es hier Pläne gegeben, die Nutzungsrechte am Plavnabach an die Engadiner Kraftwerke AG zu verkaufen, jedoch hätten die Tarasper Bürger dieser Versuchung tapfer standgehalten. Hingegen sei das Bestreben, das Tal dem angrenzenden Schweizer Nationalpark einzugliedern, am Widerstand der Tarasper Hoteliers und Wirte gescheitert, die es sich nicht nehmen lassen, ihren Gästen eine Kostprobe vom selbstgejagten Gamsbock aufzutischen.

Die Wanderer erreichen die Alp Laisch. Die Alm besteht aus einem langgestreckten, mit Schindeln bedeckten Gebäude, das im Sommer den Tieren als Unterstand dient. Jetzt ist alles leer und verlassen. Die wettergebeizten Fensterläden sind fest verschlossen, die aus rohen Brettern gezimmerten Tische und Bänke an die Hauswand gekippt.

Spitzkehrenleser

Nach einer kurzen Rast geht es weiter. Die rot-weißen Markierungen an den Felsblöcken bleiben unter der Schneedecke verborgen. Doch Lukas Barth kann das Gelände lesen, Spitzkehre für Kehre malt die Tourengruppe ihre Zickzackspur in den makellosen Hang. Dann ist der höchste Punkt tatsächlich geschafft.

Auf der gegenüberliegenden Talseite recken die Hausberge ihre gleißenden Spitzen in den Himmel. Zum Greifen nah die Gipfel der Ötztaler Alpen, rechts Piz Sesvenna, Piz Chiavalatsch. Weiter im Osten, wo die Schweiz wie ein übriggebliebener Wurstzipfel in das benachbarte Südtirol hineinreicht, zeichnen sich die eisgepanzerten Beinaheviertausender der Ortlergruppe ab. Aber schon kriechen über dem Plavnatal die Schatten höher, vom Piz Nair weht ein eisiger Wind herab. Lukas Barth drängt zum Aufbruch.

Am späten Nachmittag sind die Tourengeher zurück in Fontana Tarasp. Die Trinkhalle, ein neoklassizistisches Gebäude in schönstem Kaisergelb, hat seine Tore bis 19 Uhr geöffnet. Es genügt, auf einen roten Knopf zu drücken, und schon plätschert das Kohlensäurewasser der Carola-Quelle aus dem gusseisernen Rohr. Einst, so erfährt man von einer Informationstafel, pflegte hier die Königin von Sachsen sechs bis acht Liter Mineralwasser am Tag zu trinken. Heute sind Trinkkuren nicht mehr in Mode, und die große Halle bleibt fast so menschenleer wie die Alp Laisch im Winter. (Helmut Luther/DER STANDARD/Printausgabe/19./20.1.2008)