Schuldfragen im Niemandsland, ein Bahnübergang als Gedenkort für 22 Tote und eine Katastrophe: Peter Payers Spielfilm "Freigesprochen" (mit Frank Giering und Lavinia Wilson) basiert auf Ödön von Horvaths letztem Stück "Der jüngste Tag".

Foto: Poool

Der jüngste Film des österreichischen Regisseurs erzählt davon mit beträchtlicher Ambition.

Wien – In den Spielfilmen des österreichischen Regisseurs Peter Payer erahnt man hinter den Bildern so etwas wie Erinnerung. Erinnerung daran, dass es im heimischen Kino und Fernsehen einmal eine Auseinandersetzung auch mit sperrigeren literarischen Sujets gegeben haben mag, und – mindestens ebenso wichtig – den Willen auch zu einer filmischen Sprache, in der das Kino nicht zur Vorabspielstätte für TV-Formate verkommt.

Ja doch, das ist jetzt ein wenig polemisch formuliert, und natürlich gibt es von Michael Haneke über Ulrich Seidl bis hin zu Barbara Albert die Ausnahmen zur traurigen Regel. Aber Peter Payers Filme, weniger "bekannt" und streckenweise durchaus kritisierbar – sie zeigen gewissermaßen in einer Mischung aus ungewöhnlicher Sorgfalt und eigenartigen Annäherungen an den Zeitgeist das ganze Dilemma einer Branche, in der einige wenige immer noch nicht auf Qualität verzichten wollen, aber ziemlich im Unklaren scheinen, welchem Publikum man was erzählen will.

Immer leicht daneben

Albert Drachs radikalen Roman "Untersuchung an Mädeln" hat Peter Payer 1999 einigermaßen glatt adaptiert; dem Kabarettisten Alfred Dorfer hat er 2003 bei "Ravioli" geholfen, mit wenig Budget auch unnötige Scherze sinnvoll einzusparen; und seine Verfilmung von Christine Nöstlingers Jugendbuch "Villa Henriette" geriet 2004 zu einer erstaunlich melancholischen Variation über urbanes Leben und Patchwork-Familien: Dies alles immer leicht an den potenziellen Publikumsschichten vorbei, oft ins Leere, gleichzeitig aber getragen von einer erzählerischen und visuellen Ambition, der man oft ein besseres Drehbuch und mehr Konsequenz gewünscht hätte.

Für "Freigesprochen", Payers jüngste Arbeit, basierend auf Ödön von Horvaths Stück "Der jüngste Tag" (1937), gelten diese Einwände in besonders schmerzhaftem Maße. Verglichen mit vielen jüngeren und jüngsten heimischen Produktionen ist dieser Film nämlich in vielen Momenten erstaunlich komplex gestaltet. Und erzählt wird da nicht zuletzt, auch für heimische Verhältnisse durchaus symbolträchtig und selbstreferenziell, die Geschichte einer kurzen Ablenkung und Geistesabwesenheit, die überproportional tragische, absurde Folgen hat.

Ein Kuss zwischen einem Mann und einer Frau, die eigentlich anderweitig liiert sind, löst ein Zugunglück aus, das der Film als ratlose Leerstelle bzw. dann in Andeutungen eines apokalyptischen Szenarios abbildet.

Der Fahrdienstleiter Thomas Hudetz (Frank Giering), der sich mit der Wirtstochter Anna kurz selbst vergessen hat (Lavinia Wilson), findet sich angesichts von 22 Toten und Kreuzen rund um einen Bahnübergang nicht mehr wieder. In vielen der beeindruckenden, herbstlich und winterlich getönten Breitwandbilder, die Peter Payer gemeinsam mit dem Kameramann Andreas Berger für diese traumatische Selbstbetäubung gefunden hat, erahnt man, wie es in den Köpfen dieser Protagonisten toben muss, die über die Sprache, derer sie nun bedürften, schon vor der Katastrophe nicht verfügten. Dienst war Dienst, Liebe ein seltsam unkonzentriertes Moment, aber wie definiert man, katholisch oder nicht, Schuld?

Aus dem zunehmend ratlosen Gestammel zwischen zerfetzten Waggons und herumirrenden Überlebenden hätte sich ein Trauma-Drama wie einst Peter Weirs "Fearless – Jenseits der Angst" ergeben können. Oder, etwas "näher" gedacht: "Freigesprochen" hätte sich tatsächlich an Ödön von Horvath, dem Meister der Stille und des beredten Schweigens, orientieren können.

Bei ihm wird das Manko und der Kontrollverlust ja immer dann ablesbar, wenn es in den Gesichtern und Körpern arbeitet und die Verhältnisse gleichsam durch die Nicht-Handelnden hindurch reden.

Pop statt Schweigen

Peter Payer scheint jedoch an derlei formalen Eigenheiten der Vorlage weniger interessiert als an einem Inhalt, einer Handlung, die man in die Beschleunigungen und Beengtheiten einer diffusen Jetzt-Zeit übertragen könnte.

Ihn bewegt zwar, durchaus plausibel, der kurze ratlose Moment, in dem "Schuld" wenig fassbarer zu sein scheint als ein vergossener Becher Kaffee. Aber er bringt das Schweigen und die Sprachlosigkeit danach nicht zum Klingen. Zwar generiert er permanent "Atmosphäre", von Einstellung zu Einstellung, von Bild zu Bild (und oft scheinen diese Bilder geradezu mutig unverbunden, das ganze Gefüge mit Rissen durchzogen).

Aber dort, wo früher mit dem Denken auch das Reden aussetzte, erklingen heute Popsongs; und wenn auch die Verlagerung in heutige Settings ganz gut funktioniert: Die Fallhöhe des privaten Dramas und der Beziehungsgeschichten, aus denen es hervorgeht – sie überschreitet das Niveau mancher TV-Krimis Marke Tatort nur unwesentlich, selbst wenn ein Kaliber wie Corinna Harfouch eine betrogene ältere Ehefrau gibt.

"Freigesprochen": Am Übergang zwischen inszenatorischer Ambition und Kompromissen an ein möglichst breites Publikum bleibt dieser Film unentschlossen hängen. Für eine radikale Lesart mag er sich nicht entscheiden, Anbiederung ist seine Sache nur bedingt. So sitzt man im heimischen Kino einmal mehr zwischen den Stühlen. (Claus Philipp / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18.1.2008)