Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte Thomas Rottenberg

Es war neulich. Da rief M. an und erklärte, dass er noch lebe. Und zwar gar nicht so schlecht. Das, waren wir uns einig, war schon eine Neuigkeit. Schließlich hatten wir einander das zuletzt vor etlichen Jahren gesehen. Und damals war M. uns allen – inklusive sich selbst – mit dem unendlichen Klagelied seiner verpfuschten Existenz auf die Nerven gegangen: An solchen Dauergesängen, hatte M. damals schon gejammert, könnten und würden Freundschaften zerbrechen. Er, hatte M. stets gewimmert, würde derlei nämlich nicht ertragen. Das war eine Selffullfilling Prophecy gewesen.

Aber jetzt, sagte M., als er da plötzlich am Telefon war, sei das alles längst passé. Trotzdem aber, setzte er fort, melde er sich um der alten Zeiten Willen. Die Stadtgeschichten über die Straßenbahnfans hätten in ihm nämlich die Erinnerung an den alten Mann im Café Carina wachgerufen. Der Straßenbahnen am Klang erkennen konnte.

Gürtelszene

Als M. den Mann erwähnte, fiel er mir auch wieder ein. Obwohl: Eigentlich fiel mir seine Geschichte wieder ein. Denn ich konnte mich weder an ein Gesicht, noch an ein Alter oder gar einen Namen erinnern. Aber die Geschichte war wieder da. Irgendwann hatte jemand in dem immer seltsamen, kurze Zeit aber als hipp-"erdige" Alternative zu den gerade eröffnenden "jungen" Gürtellokalen geltenden Beisl unter der Stadtbahn begonnen, Geschichten über die Geschichte des Carina zu erzählen: Von der Schank, die aus einem Wienerwaldschutzhaus stammte. Von den Straßenbahnern, die hier vor oder nach der Garniturübergabe einkehrten – und von dem Mann, der die Bim am Klang erkannte.

Der Mann, hatte es geheißen, sei jeden Tag ein paar Stunden hier. Immer am selben Platz. Er tränke ein oder zwei Gläser Wein, schaue nie von seiner Zeitung hoch und mache sich alle paar Minuten Notizen. Es habe, erzählte man uns, Monate gedauert, bis man herausbekommen habe, was er tat: Er führte Buch. Über Straßenbahnen. Nicht bloß darüber, welche Linie oder welcher Wagentyp da gerade draußen vorbeiknirschte, sondern auch darüber, welche Garnitur es war. Ohne den Blick zu heben.

Bim-Ohr

Die Straßenbahner im Lokal, erzählte man uns, waren dann natürlich af den Mann mit dem Bim-Gehör aufmerksam geworden. Und langsam hätte sich herausgestellt, dass der Mann selbst auch einen täglichen Fahrplan zu absolvieren hatte. Dass er also jeden Tag eine fixe Route abgraste, sich an Mehrfachhaltestellen, Linienkreuzungen und bei Remisen hinsetzte – und eine akustische Inventur des Schienenfuhrparks der Wiener Linien vornahm.

Natürlich galt er als Spinner. Als Scharlatan. Es war ihm egal. Aber nachdem man ihm lange genug über die Schulter geschaut hatte und die Zahlen im Heft mit denen auf den Wägen vor dem Lokal verglichen hatte, mussten auch die Skeptiker und die Spötter zugeben, dass der Bim-Flüsterer sich nicht irrte. Angeblich kein einziges Mal. Sogar die Kombinationen von Zugwägen und Waggons soll er stets richtig notiert haben.

Flüsterton

Dunkel erinnerte ich mich jetzt wieder an einen kleineren, ältlichen Mann, der da in einer Koje des Lokals gesessen hatte. Der dort, hatte die Belegschaft hinübergenickt, sei der Bim-Flüsterer. Und weil er doch einer war, der mit den Ohren arbeitete, senkte man immer ein bisserl die Stimme, wenn man über ihn sprach. So, als könnte just dieses eine gesprochene Wort in der Kakophonie aus Beisl- und Gürtellärm die Präzision seiner Wahrnehmung beeinträchtigen.

M. gluckste fröhlich vor sich hin während wir am Telefon die Vergangenheit Revue passieren ließ. Bis wir zum Schluss auf den Haken in der Geschichte stießen: Keiner von uns hatte je selbst mit dem Bim-Flüsterer gesprochen. Oder auch nur einen Blick in sein legendäres Heft geworfen. Es hatte uns genügt, dass die, die immer im Lokal gesessen hatten, uns diese Geschichte als reine, allerreinste Wahrheit aufgetischt hatten.

Damals hatte das genügt. Schließlich gab es in dieser Region damals noch weit seltsamere Dinge, Figuren und Geschichten – und die hatten (oft genug: leider) jeder Überprüfung standgehalten. Doch auch aus heutiger Sicht, beschlossen M. und ich, die Geschichte weiter zu glauben. Weil sie zu schön und zu banal ist, um sie sich durch genaues Nachprüfen kaputt machen zu lassen. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 14. Jänner 2008)