Tanger war Refugium, Inspirationsquelle und Terrain für Experimente zugleich, ungebremst waren die Eskapaden dieser Autorenriege allerdings nur bis 1956, solange die Stadt noch unter internationaler Verwaltung stand.

Foto: Jan Marot
Grafik: DER STANDARD

Hinter den Wolken schimmert noch ein Streifen Europa durch an diesem Jännertag in Tanger. Aber blickt man von der blauen Terrasse des 1921 gegründeten Café Hafa abseits der Medina erst einmal in Richtung Atlantik, ist man endgültig angekommen. Für Paul Bowles, den Autor von "Der Himmel über der Wüste" war es der "schönste Ort" der Nordwestspitze Afrikas, ein Ruhepol in der quirligen Hafenstadt ist das Café heute noch. Bis zu seinem Tod 1999 blieb Bowles Tanger treu, das ihn 52 Jahre in seinen Bann zog. Als Mäzen förderte er junge, lokale Autoren, hielt ihre Geschichten fest und beeinflusste eine ganze Reihe von Pop-Literaten, die "Beatniks".

Sich selbst, Widersprüche und harte Kontraste wollte Bowles hier suchen und "das Gefühl, permanent auf Reisen zu sein". Tanger war dafür goldrichtig, es folgte diesem Beat-Prinzip. Hier erlebte er das mit Blick auf die hunderten Frachter aus aller Welt, die täglich die Straße von Gibraltar passieren. Vor dem Fenster seiner Wohnung, unter der Kasbah am Place Amrah gelegen, fand er eine Welt, die an ihm vorbeizog. Reisefieber ohne zu reisen. Permanent.

Andere Perspektiven ...

Am Nana, dem starken wie süßen Minztee nippend, blicken junge Marokkaner heute sehnsüchtig über diese Frachter hinaus auf Spanien. Bowles hingegen erklärte Tanger selbst zur Endstation seiner Sehnsüchte, und auch diejenigen, die sich um ihn scharten, haben ihre Spuren hinterlassen. Zu schnell aber verfällt heute das, was Jack Kerouac ("On the Road"), William S. Burroughs ("Naked Lunch") oder auch Allen Ginsberg hier verklärten.

So auch das Café Detroit, neben der alten Festungsmauer am Dar El-Makhzen gelegen und in jener verruchten Ära noch "1001 Nacht" genannt. Hier war es, wo Beatautor Brion Gysin, ein enger Freund Burroughs, verweilte und der Rolling-Stones-Lead-Gittarist Brian Jones Trance-Elemente nicht nur in der marokkanischen Musik suchte.

Diese Freiheiten lockten auch den internationalen Jetset, wie heute noch ein Werbeschild an "Jimmy's Parfümerie" verrät, die diese Kundschaft zur ihren zählte. Mondäne Feste gab die milliardenschwere Woolworth-Erbin Barbara Hutton in ihrem Palais Sidi Hosni neben dem Kasbah-Eingang. Sie ging bankrott in Tanger. Nicht so Forbes-Gründer Malcolm Forbes, der sich nur 100 Meter vom Café Hafa entfernt ein Museum mit hunderttausend Zinnsoldaten leistete, die in historischen Schlachten posieren.

Tanger war Refugium, Inspirationsquelle und Terrain für Experimente zugleich, ungebremst waren die Eskapaden dieser Autorenriege allerdings nur bis 1956, solange die Stadt noch unter internationaler Verwaltung stand. Burroughs, der einige Jahre hier verweilte, ließ seinen Roman "Interzone" während dieser Vierstaatenverwaltung Tangers durch Frankreich, Spanien, England und Portugal spielen und lebte jahrelang in Bowles "Villa Muniria" in der Rue Magellan. Allen Ginsberg gesellte sich hinzu, nur wenig entfernt, im "Tanger Inn", hängen heute noch seine Bilder.

... und ein anderer Beat

Heute ist es ruhig geworden. Gar ein Kasino und wenige Diskotheken an der Strandpromenade des "modernen" Tanger locken Europäer, die in der schmucken Lounge im Dawliz-Komplex oder noch gehobener im Nord Pinus, am Dach eines Riads, ihre Cocktails trinken. Und allenfalls den DJs lauschen, wenn sich die Basare leeren und die Nachtruhe bis zum ersten Rufe des Muezzins am Morgens einkehrt. Und der Beat ist ein anderer geworden: Basslastig donnert es mitunter aus den Räumen, in unmittelbarer Nähe des Nobelhotels El Minzah, wo auch Truman Capote und James-Bond-Autor Ian Fleming residierten.

Das "goldene Tor zu Afrika" war vielmehr immer ein buntes, eine fragmentierte Stadt: An einer Ecke wähnt man sich in Paris – wie im Restaurant Mangana, wo zu Chansons Harira, die typische Kichererbsensuppe mit Datteln, Zitrone und arabischen Strauben, gegessen wird. Wo die Taubenfleisch-Teigtäschchen und das Perlhuhn-Couscous vom 1995er "Medaillon Gran Reserve" aus der Region um Uled Thaleb begleitet werden; und vom 180-Grad-Panorama über die Altstadt und den Hafen.

Die Kontraste fordern und machen wett, was Tanger, das sich erfolglos um die Expo 2012 bewarb, an Sehenswürdigkeiten fehlt. Die Stadt lud schon damals die Beatniks zum Flanieren ein: durch verwinkelte Gässchen und über gelbe Treppen, vorbei an verfallenen Gebäude. Heute passiert man auch die renovierten, sie gehören aber vor allem Spaniern. Die wollen sich nun wieder um das verfallene Teatro Cervantes in der Rue Andalouse kümmern. Früher eine der wichtigsten Bühnen am Mittelmeer, soll sie jetzt mit Mitteln aus dem Nachbarland restauriert werden.

Für Henri Matisse war Tanger keine Liebe auf den ersten Blick. So hielt er fest, nun schon ein Monat in Tanger zu sein, und: "Die ersten 15 Tage und Nächte habe ich geweint wie niemals zuvor, doch dann brach eine Zeit der Freude an." Denn wie Beatnik Burroughs schrieb, bildet Tanger eben eine harte "Grenze aus Traum und Realität". Zeitreisefieber bei verlangsamten Puls vermag sie heute noch zu wecken. (Jan Marot/DER STANDARD/PRINTAUSGABE/12./13.1.2008)