Unweit von Lissabon bringt die Wintersonne die weiten Strände zum Glänzen.

Foto: Krichmayr
Es ist wirklich nicht schwierig, Körper, Geist und Seele sein zu lassen, was sie sind, und so etwas wie innere und äußere Ruhe zu finden - vorausgesetzt, man sitzt auf einer Rolle Tau am Bug eines unprätentiösen Segelschiffchens (aber schon mit Motor), lässt den Horizont vor den Augen auf und ab wippen und Wind und Sonne darum streiten, wer die besten Eindrücke auf den Wangen hinterlässt. Da wundert man sich nur ganz kurz, warum sich Menschen auf verschiedenste Weise Mühe geben abzuschalten, wenn es doch das Meer gibt, dann stoppt ganz automatisch die Gedankenmühle.

Kaum hat die elf Meter lange, nussschalenförmige Barke namens "Nossa Senhora da Aparecida" vom Fischerhafen in Sesimbra, 40 Kilometer südlich von Lissabon, abgelegt, sind auch sämtliche Unstimmigkeiten jeder noch so vertrackten Reisegruppenmischung beigelegt. Die harmonisierende Wirkung des gleichmäßigen Tuckerns über das milde Wintermeer ist einfach zu überwältigend.

Die liebevoll restaurierte Karavelle mit der gerade kniehohen Reling ist nicht von ungefähr nach der brasilianischen Nationalheiligen Nossa Senhora da Aparecida (=die Aufgetauchte) benannt, der schwarzen Madonna, die der Legende zufolge 1717 Amazonas-Fischern ins Netz ging. Vor genau zwei Jahren segelte das Schiff samt Kapitän Alexandre in 43 Tagen entlang der Route von Entdecker Pedro Álvares Cabral von Sesimbra nach Porto Seguro in Brasilien (und zwar ganz ohne Motor) und machte damit Schlagzeilen.

Während der zeitlosen Fahrt entlang der Küste, die zwischen Lissabon und der Algarve schlicht Costa Azul (Blaue Küste) heißt, kann man nur schwer verstehen, warum es die portugiesischen Seefahrer eigentlich so vehement in die Ferne zog, ebenso wenig, warum dem Großteil der Touristen, die an Portugal und Meer denken, zuerst die zubetonierte Algarve einfällt, wo es doch unweit Lissabons die Strände am Fuße des Arrábida-Gebirges gibt. Nachdem wir uns in eine türkisfarbene kleine Bucht geschunkelt haben, wirft Alexandre, ein ehemaliger Berufspilot, den Anker. Sein Begleiter befestigt einen Grill am Heckgeländer und holt die mit grobkörnigem Salz eingeriebenen Sardinen aus der Kombüse, während sich die ersten Möwen schon beiläufig in Position bringen. Wer sich des Nachtlebens in Lissabon, das gewöhnlich nicht vor zwei Uhr früh beginnt, enthält und früh losfährt, kann selbst die Angel auswerfen. Frischeren und besseren Fisch als in Sesimbra bekommt man ohnehin nirgends, wird allerorts versichert.

Eines steht fest: Jedes noch so gustiöse Luxusrestaurant kann einem gestohlen bleiben, wenn man so eine quasi über dem Wasser gegrillte Sardine auf einem Stück Weißbrot in die Hand gedrückt bekommt, mit Erdäpfeln in Schale und einem Schuss Olivenöl darüber und Rotwein dazu. Die mittlerweile circa 50 Möwen, die sich rund um die Karavelle versammelt haben, wissen die Vorzüge der Fischköpfe ebenso zu schätzen, veranstalten dafür eine veritable Zirkusshow und eskortieren das Boot noch bis zum nächsten Hafen.

Die Erkenntnis, dass man nicht unbedingt in die Karibik oder die Südsee fahren muss, um die Stichworte Meer und Winter in einem Reisekoffer unterzubringen, bestätigen auch die weiter nördlich gelegenen Strände an der Costa de Lisboa, die sich bequem per Bummelzug von Lissabon aus erreichen lassen. Vom Bahnhof am Cais do Sodré aus führt die Strecke zuerst vorbei an den Docas. Kilometerlang zieht sich das Hafengelände der Flussmündung des Tejo, an den sich die portugiesische Hauptstadt schmiegt und der mit seiner Breite von bis zu zehn Kilometern dem Meer bisweilen zum Verwechseln ähnlich sieht. Unter der 25.-April-Brücke (Beginn der Nelkenrevolution) sind in die alten Lagerhallen am Yachthafen schicke Restaurants, Boutiquen und Clubs eingezogen und bilden nächtens das zweite Party-Standbein neben den engen Gassen des Bairro Alto, eines alten Viertels auf einem der sieben Hügel Lissabons.

Im historischen Stadtteil Belém treffen moderne Graffiti auf den Mauern auf ältere, zum Beispiel auf dem 1521 fertiggestellten Turm von Belém, der als Symbol der Entdeckungsfahrten mit feinziselierten Knoten, Seilen und Artischocken gespickt ist. Kurz danach markiert die runde Festung mitten im Wasser, die der Diktator Salazar genutzt hat, um unliebsame Personen verschwinden zu lassen, die Grenze zwischen Tejo und Atlantik, wo Süß- und Salzwasser eindrucksvoll zusammenklatschen - und das Meer beginnt. Am Strand von Carcavelos bezeichnen die schwarzen Punkte auf den wogenden Wellen, die von weitem wie Robben aussehen, die Surferjugend in Neoprenanzügen, die sich hier bei jedem Wetter trifft.

Die meisten Lissabonner nehmen vorzugsweise das Auto, fahren damit an den Winterwochenenden in Richtung der einst mondänen Badeorte Estoril und Cascais, parken es an einer Klippe oder der Promenade und genießen den Blick aufs Meer vom Auto aus - und nennen das dann "spazieren gehen". Dabei ist ein richtiger Strandspaziergang im Dezember - mit Schal um den Hals und den kalten Sand zwischen den Zehen - fast schöner als in der Sommerhitze. Die Lufttemperatur sinkt selten unter 15 Grad, jene des Wassers liegt ein paar Grade darüber.

Am Strand von Guincho (übersetzt: Möwenschrei), der zwischen Cascais und dem Cabo da Roca, dem westlichsten Punkt Kontinentaleuropas liegt, folgen im Sommer die Surfer den meterhohen Wellen, und mobile Bars belegen die Promenade. An diesem Nachmittag schlendern nur vereinzelte Pärchen, die sich kaum vom zu staubigem Dunst aufgewirbelten Sand abheben, über den Strand, ein Mann stemmt sich in Schräglage gegen die Kräfte seines Drachens. Das schräg einfallende Licht der Wintersonne lugt in dem schmalen Streifen unter dem verhangenen Himmel hervor und spiegelt sich in der dunkelblauen Folie des schwer atmende Meeres und lässt die weitläufige Bucht, die von niedrigen Sträuchern und hochgeschossenen Agaven eines Naturparks begrenzt wird, wie mit Weichzeichner bearbeitet wirken. Da passt es auch ins Bild, dass sich eine kleine Gruppe zum Qigong zusammengefunden hat - und damit gleich doppelt abschaltet. (Karin Krichmayr/DER STANDARD/RONDO/11.1.2008)