Joachim Lottmann, Erfinder der deutschen Popliteratur, absolviert im Wiener Bobo-Tempel Phil "eine Art Lesung".

Foto: Christian Thiel
Wien – Dass Joachim Lottmann mit seinem 1987 erschienenen Roman Mai, Juni, Juli zehn Jahre vor ihrer Zeit die gesamte deutsche Popliteratur im Alleingang erfand, ist mittlerweile fixer Bestandteil jedes Artikels über Benjamin Stuckrad-Barre, seines ein Jahrzehnt später auftauchenden Musterschülers. Auch Christian Kracht, Rainald Goetz, Dietmar Dath, Linus Volkmann, Nick Hornby, Werner Schwab, Sibylle Berg, Robert Menasse, Tom Kummer, Sarah Kane, David Schalko, Michel Houellebecq oder aktuell Michael Köhlmeier mit Abendland: undenkbar ohne Lottmanns historischen Wurf!

Doch die Last der eigenen Bürde und vor allem auch die Einsamkeit in olympischen Höhen wiegt schwerer als unten im Tal bei uns Post-it-Lyrikern. Verständlicherweise konnte Lottmann an den Erfolg dieses an Knut Hamsun (Hunger) wie Karl Philipp Moritz (Anton Reiser) oder Eckhard Henscheid (Die Vollidioten) gebrochen durch Dieter Bohlen (Nichts als die Wahrheit), DJWestbam (Mix, cuts und Scratches) und Helmut Berger (Ich. Die Autobiographie) erinnernden Meisterwerks bezüglich Verdichtung deutscher Befindlichkeiten nicht anschließen. Er ging in die schönste, er flüchtete in die innere Emigration.

Aus dieser schickt der ehemalige Student von Diedrich Diederichsen und Maxim Biller seit damals je nach Gutdünken als Lohnzuschreiber für die deutsche Tages- und Wochenpresse perfid als Reportagen getarnte Klagen über das Missverhältnis zwischen Welt und eigener Misere, zwischen Armuts- und Eitelkeitsfalle. Und Lottmann begann, in der idyllischen Abgeschiedenheit von kulturellen Enklaven wie dem Feuilleton der Hamburger Zeitung Die Zeit, aber auch auf weltlicher und vom Tempo her etwas gehobener ausgerichteten Seiten wie jenen der Süddeutschen Zeitung oder stilistischen Gesamtkunstwerken wie dem nassforschen Spiegel, ein Konzept des Borderline-Journalismus zur literarisch präzisen wie zugleich tödlich-amüsanten Waffe zu verfeinern. Rache ist nicht süß. Die Tränen des Feindes, sie schmecken bitter.

Wenn es darum geht, der Wirklichkeit ein wenig unter die Arme zu greifen, wo Geschichten gefragt sind, die das Leben zwar schrieb, aber bei deren Lektüre es selbst immer als Erster einschläft, falls also bei einem Artikel über langweilige Zeitgenossen wie Blixa Bargeld, Nina Hagen, Bazon Brock oder Tokio Hotel Notstand am Mann ist, kommt Lottmann und fährt mit dem Schwamm drüber. Alles halb so schlimm!

Doch greifen wir nicht vor, sondern schauen noch kurz ins Jahr 1999. Erst zwölf Jahre nach Mai, Juni, Juli, der 1959 in Hamburg gebürtige Hanseate hatte sich zwischenzeitlich in Köln und München auch als Taxifahrer und Leibwächter von Rainer Langhans durchgeschlagen, schlug Lottmann vom neuen Standort Berlin aus mit Deutsche Einheit wieder ins selbe Kerbholz. Und er beklagte, gewohnt souverän über den Dingen und der Faktenlage stehend, also visionär, die mehr schlecht als recht wieder zusammengestoppelte deutsche Nation schon damals als Richtung Jugendwahn und Zombietum und Hartz I bis IV driftendes Geisterschiff.

Wofür der "Journalist" Joachim Lottmann heute dank seiner aktuellen Arbeiten wie Die Jugend von heute oder Zombie Nation zu Unrecht verdammt und Thomas Glavinic als "Literat" mit Das bin doch ich zu Recht gelobt wird, obwohl die Technik dieser vermeintlichen Zeitchronisten ein und dieselbe ist: Es geht um einen literarisch-anekdotischen und flunkerhaft-egozentrischen Zugang zur Welt. Es geht darum, mit der Macht des Wortes die schönsten Frauen ins Bett oder zumindest zu den Lesungen zu kriegen; womit gleichzeitig der laut Lottmann vom Aussterben bedrohte Sex gerettet wäre! Nebenher kann man dann ja auch noch unbedankt die deutsche Literatur aus den 1970er-Jahren ins 21. Jahrhundert stemmen.

Mengenlehre mit König

Sei es nun journalistisch ummantelt oder offensiv blümerant, aber dafür ehrlicher wie seit 2007 in seinem hochamüsanten taz-Blog, Lottmanns Schreiben ist ein jederzeit als Schelmenstück erkennbares Verdichten für bare Münze genommener Scheinwirklichkeit im Zeitalter ihrer Verwikipedisierung. Die Methode lautet: Wenn drei in einem Raum sind und vier rausgehen, muss einer wieder reinkommen, damit keiner mehr da ist. Es geht bloß darum herauszufinden, wann der Unsinn den Raum verlässt. Wir sehen diesen als alten Mann nackt durch die Straßen laufen und "Ich bin der König!" rufen. Niemand glaubt ihm. Aber es ist lustig. (Christian Schachinger, DER STANDARD/Printausgabe, 09.01.2008)