Ein Leben auf den Gräbern der Ahnen:In der Dokumentation "Mafrouza – Oh Night!", die ihm Rahmen der Berliner Ausstellung "Di/Visions" läuft, verschwindet das Metaphorische hinter dem Profanen.

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Catherine David präsentiert im Berliner Haus der Kulturen der Welt "Di/Visions". Eine Annäherung an die aktuelle Kultur in Nahost.

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Das "Independent Film and TV College" in Bagdad wurde 2004 eröffnet. Wer dort Filmemachen lernen will, muss nichts zahlen. Gedreht wird auf Video, nicht immer ist Strom vorhanden, um alle Geräte zu bedienen.

In ihrem sehr persönlichen Film Baghdad Days zeigt die Studentin Hiba Bassem häufig sich selbst. Sie sitzt vor der Kamera und spricht von ihrer Familie, die vom Land in die Hauptstadt zog. Sie erzählt von der Rückkehr in ihr Studentenheim, das sie geplündert und verwüstet vorfand, und von ihrer Vermieterin, die keinen Herrenbesuch erlaubte, aber einen älteren Mann aus und ein gehen ließ, ja, ihn sogar als "gute Partie" empfahl.

Baghdad Days ist eine der Vorzeigeproduktionen des "Independent Film and TV College", als solche wird sie im Rahmen eines Programms über "Kultur und Politik im Nahen Osten" gezeigt, das Catherine David für das Haus der Kulturen der Welt in Berlin zusammengestellt hat: "Di/Visions" besteht aus einer Ausstellung, Podiumsgesprächen und einer Filmreihe mit Beiträgen aus und zu Ägypten, Syrien, Libanon, Iran sowie Palästina/Israel und dem Irak. In einer Szene von Baghdad Days ist Hiba Bassem bei Dreharbeiten für eine TV-Serie zu sehen. Sie ist als Regieassistentin tätig, erwähnt aber nur, dass sie von den männlichen Kollegen eher als Sexualobjekt denn als Kollegin behandelt wird. Es wäre interessant gewesen, hätte Hiba Bassem diese Passage ein wenig vertieft.

Keine Filmtradition

Sie hätte Gelegenheit gehabt, über den Status des Kinos in einem Land nachzudenken, das auf diesem Feld kaum eine eigene Tradition hat, sich nun aber eine zu geben versucht. Hiba Bassem aber hat Dringlicheres zu erzählen: Etwa die Geschichte ihres Cousins Ali, der als Übersetzer für die Amerikaner gearbeitet hat und Opfer eines Anschlags wurde: Seither ist er blind, und seine linke Hand musste amputiert werden.

Der Irak wird im Rahmen von "Di/Visions" in die umfassendere audiovisuelle Produktion des Nahen Ostens eingebettet. Catherine David, die seit der von ihr kuratierten documentaX im Jahr 1997 verstärkt die kulturelle Situation in den Ländern zwischen Maghreb und Kaukasus beobachtet, versammelt Zeugnisse aus Ländern, deren Kino entweder auf ein regionales Publikum beschränkt bleibt oder in denen die Filmemacher sich mit Untergrundmethoden gegen das offizielle Regime bewähren müssen.

Signifikant ist in diesem Zusammenhang I Am The One Who Brings Flowers To Her Grave von Hala Al Abdalla und Ammar Al Beik. Ein Film aus Syrien, der im Pariser Exil ansetzt und in mehreren Anläufen zu einer schmerzhaften Familiengeschichte vordringt. Die Regisseurin gibt darin zu verstehen, dass sie in ihrem Leben schon zwanzig Filme machen wollte, nun aber all diese zwanzig Filme in diesen einen stecken muss, der so eine vielschichtige Form bekommt – als Vorbild nennt die Filmemacherin die schwarzen Ikonen, die sie aus ihrer Heimat kennt.

1981 musste Hala Al Abdalla ihr Land verlassen, sie ging mit ihrem Ehemann Yousseff nach Paris. 1991 verschwand die Dichterin Daed Haddad. Zwischen diesen beiden Tatsachen entfaltet sich der Film.

Der Nahe Osten erscheint in der Perspektive von Catherine David keineswegs als homogene Region, sondern als Ort unzähliger Schicksale, die jedoch durch Gemeinsamkeiten geprägt sind: Armut, intellektuelle Einsamkeit, religiöse Fragen.

Wie eine große Metapher könnte der zweieinhalbstündige Dokumentarfilm Mafrouza – Oh Night! von Emmanuelle Demoris erscheinen. Sie hat in einem Viertel der ägyptischen Hafenstadt Alexandria gedreht, das ursprünglich ein Gräberfeld war. Inzwischen haben sich dort Menschen angesiedelt. Manche müssen täglich unzählige Eimer brackigen Wassers ins Freie schleppen. Mit diesen Beobachtungen verliert Mafrouza – Oh Night! alles Metaphorische.

Sechs, sieben Stockwerke sollen die Gebäude einmal haben, von denen die Menschen hier träumen. Vorerst müssen sie zufrieden sein, wenn sie mit ein paar Ziegeln eine Treppe bauen können, damit die Frauen nicht stolpern, wenn sie das Brot vom Bäcker nach Hause bringen.

In einer Szene beobachtet Emmanuelle Demoris Bäckerinnen, die aber über keine Bäckerei verfügen. Sie haben zwischen den höhlenartigen Räumen einen Backofen improvisiert und hoffen, dass es nicht zu regnen beginnt, denn sie müssen den Teig im Freien aufgehen lassen.

In den langen Musikeinlagen, in Mafrouza – Oh Night! improvisieren die jungen Männer des Viertels zu Trommeln ihre Wechselgesänge – ihr "freestyling" ist anzüglich, selbstironisch und immer wieder in einer Weise misogyn, was wie die Kehrseite der Idealisierung wirkt, die Frauen gleichermaßen widerfährt.

Das Programm "Di/Visions" entdeckt filmische Formen, in denen diese Widersprüche auf überraschende Weise Gestalt annehmen können – nicht nur im Irak dient das Kino auf eine neue Weise als Verständigungsmittel, wo es lange nur Herrschaftsmedium war oder bis vor kurzer Zeit gar keine Geschichte hatte. (Bert Rebhandl aus Berlin, DER STANDARD/Printausgabe, 05./06.01.2008)