Schon wieder ein "Bedenkjahr"! An die gesellschaftlichen Turbulenzen von 1968 werden wir uns heuer erinnern, an den Prager Frühling des gleichen Jahres, an den "Anschluss" 1938, an den Zerfall der k.u.k. Monarchie 1918, und schließlich, wenn uns dann noch zum Feiern und Gedenken zumute ist, an den "Völkerfrühling" von 1848.

Gibt es etwas, das alle diese Ereignisse verbindet? Werden sie nur in Sonntagsreden kalendarisch abgehakt werden, oder lässt sich daraus etwas für die Gegenwart lernen und gewinnen? Vielleicht dieses: In all jenen bemerkenswerten Jahren mit einer Acht am Ende spielte die Zivilgesellschaft eine Hauptrolle. Sie wurde geschichtsmächtig wirksam in Paris und Prag 1968 und in Budapest und Wien 1848, sie erstickte in Österreich 1938 im Populismus, und sie war 1918 in den Nachfolgestaaten stark genug, um Nationalstaaten zu errichten, und in Österreich zu schwach, um den Vielvölkerstaat demokratisch zu retten.

Als Wolfgang Schüssel im Jahre 2005 das "Bedenkjahr" ausrief, stand eine schlüssige Idee dahinter: eine Art Legitimation seiner Regierung als folgerichtige Fortsetzung der österreichischen Erfolgsgeschichte. 1945 - Befreiung des Landes vom Nationalsozialismus. 1955 - Befreiung von der Okkupation der Siegermächte. Und 2005: eine von Schwarz und Blau gestellte "rotweiß-rote" Regierung, die das Land weiterführt auf den Weg in eine glückliche Zukunft. Dafür wurde um nicht wenig Geld eine beachtliche Propagandamaschine in Gang gesetzt und die Bevölkerung auf Patriotismus Marke Schüssel eingeschworen. Das Ganze war eine etwas provinzielle, aber trotzdem recht gelungene Inszenierung.

Von der jetzigen Regierung ist dergleichen nicht zu erwarten. Sie ist nicht einig genug, sie ist nicht stark genug, und sie hat auch keine Ideen. Um aus historischen Daten Funken zu schlagen, braucht man eine Vision. Zum Arzt gehen müssen, weil er Visionen hat - frei nach Franz Vranitzky - ist eine Sorge, die Kanzler Gusenbauer sich jedenfalls nicht machen muss. Infolgedessen wird es 2008 auch kein regierungsamtliches Bedenkjahr geben.

Aber das muss kein Schaden sein. Diesmal sollte die Zivilgesellschaft mit Nachdenken vorangehen - die Historiker, die Autoren, die Lehrer. Warum unterlag die bürgerliche Revolution 1848 dem autoritären Absolutismus? Was ist von ihren Ideen geblieben? Wie gehen wir, im Zeitalter der EU, mit dem Erbe des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn um? Warum war die Demokratie 1938 zu schwach, um dem Ansturm des Nationalsozialismus zu widerstehen? Und was ist bewahrenswert an den Werten der Studentenrevolte von 1968? Und an denen der sozialis-tischen Reformer des Prager Frühlings? Alles spannende Fragen.

Wir leben in einer Epoche, in der viele Menschen verunsichert sind. Sie fürchten sich vor einer ungewissen Zukunft, sie haben Angst vor Klimawandel, Pensionskürzung, Ausländerzustrom. Demagogen schlagen daraus Kapital, und eine wenig überzeugende Regierung hält nicht ausreichend dagegen. Man dreht sich lieber nach dem Wind, jedenfalls ein bisschen.

Da ist die Zivilgesellschaft gefragt. 2008 ist eine gute Gelegenheit, mit den Mitteln der Aufklärung gegenzusteuern. Ein Bedenkjahr, nicht von oben angeordnet, sondern von unten entstehend. Ich freue mich schon auf viele interessante Wortmeldungen dazu. (Barbara Coudenhove-Kalergi/DER STANDARD, Printausgabe, 2.1.2008)