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Immer wieder müssen Jugendliche in London über die Ermordung ihrer Altersgenossen lesen. Die Angst vor Gewalt wächst

Foto: AP/Matt Dunham
Es sollte ein Schaufensterbummel werden. Doch auf der Einkaufsstraße Upper Street im Nord-Londoner Stadtteil Islington nahm der Feriennachmittag der beiden Schüler eine jähe Wendung: Während der Fahrt mit dem Bus gerieten der 16-jährige Naz, und sein 17 Jahre alter Freund Aaron mit anderen Jugendlichen in Streit. Im Gerangel an der Bushaltestelle zog einer von ihnen sein Messer und stach die beiden Freunde nieder. Aaron überlebte schwerverletzt, Naz starb an Ort und Stelle.

Was den Streit ausgelöst hatte, wer am Ende zustach, dazu verhörte Scotland Yard am Freitag einen 18-Jährigen, die Auskünfte blieben spärlich. Am Tatort war von einer Jugendbande aus dem nahegelegenen Problemviertel Hackney, die sich den klingenden Namen Shakespeare gegeben hat, die Rede. Fest steht:

Nazs Tod erhöht die Zahl der Londoner Teenager, die heuer einem Messer oder einer Schusswaffe zum Opfer fielen, auf 26. In beinahe allen Fällen waren die Täter selbst noch Jugendliche, meist gehörten sie Jugendbanden an. Als Motiv reicht ein schräger Blick, eine höhnische SMS.

Oder die falsche Postleitzahl. Es gibt immer mehr Banden, die sich nicht nach toten Dichtern benennen, sondern nach den Postcodes ihrer Viertel. Wenn dann N19 auf N21 trifft, kommt es rasch zu Schlägereien und Schlimmerem. "Junge Leute verteidigen ihr Territorium. Es gibt viel zu viele Gruppen, die sich nur über ihren Postcode definieren", weiß Polizeidirektor Barry Norman.

Aktion gegen Waffen

Paradoxerweise könnte der Yard durch erfolgreiche Polizeiarbeit zu dem massenhaften Sterben der Jugendlichen beigetragen haben. Nach einer Gewaltwelle unter jungen Erwachsenen entwarf die Behörde vor Jahren das Projekt "Operation Trident", das sich gegen die Waffenverherrlichung unter jungen Schwarzen richtet. Die Beamten sicherten sich dafür die Unterstützung durch Immigranten-Organisationen. Das Projekt hatte Erfolg, viele Drogendealer und Schutzgelderpresser landeten im Gefängnis. Das machte die Straßen frei für Jugendbanden.

Deren Mitglieder rekrutieren sich aus den Londoner Bezirken, in denen sich der Wirtschaftsaufschwung des vergangenen Jahrzehnts vor allem in höherem Drogenkonsum und leichter erhältlichen Schuss- und Stichwaffen niederschlägt.

"Als ich klein war, hatte niemand Waffen. Wir haben mit Fäusten gekämpft", erinnert sich Leon. Der 22-jährige Arbeitslose lebt im berüchtigten Hochhausblock Aylesbury im Süden Londons. Sein einziger Halt sind die Malkurse bei der Kidscompany, einem Sozialzentrum, in dem Straßenkinder Aufnahme finden. Wer mit den jungen Leuten dort redet, merkt die Angst vor Gewalt. "Du suchst keinen Ärger, der Ärger sucht dich", sagt Vanessa, auch sie eine Klientin der Kidscompany. (Sebastian Borger, DER STANDARD Printausgabe, 29.12.2007)