Mobile kleine Bungalows wurden nahe Paris zu einem Dorf zusammengestellt, das Obdachlosen eine fixe Adresse und somit mehr Chancen auf Arbeit gibt.

Foto: DER STANDARD/Stefan Brändle
"Treten Sie ein", bittet Ridha mit der ausgreifenden Handbewegung eines Schlossherrn. Es ist zwar nur ein mobiles Heim, aber für den 36-Jährigen sind es die ersten vier Wände seit langem. Der hagere Franzose, der seine Mütze auch im stark überheizten Inneren aufbehält, lebte zuvor auf der Straße, nachdem ihm das Schicksal übel mitgespielt hatte.

Jetzt hat er einen Mikrowellenofen und "eine Dusche mit warmem Wasser". "Dank dieses Bungalows kann ich auf dem geraden Weg bleiben", meint er ohne jedes Pathos und erzählt freimütig seine Geschichte, die wieder einmal zeigt, wie schnell man heute durch die Maschen des Sozialnetzes fallen kann.

Nie hätte sich Ridha vorgestellt, obdachlos zu werden, "sans domicile fixe" oder kurz "SDF", wie man in Frankreich sagt. Zusammen mit seiner Freundin lebte er bei seiner Mutter in einem Banlieue-Hochhaus und schlug sich als Chauffeur durch. Als Bekannte in die Wohnung einzogen, gab es Krach, Ridha trat überhastet den Rückzug an. In der Notunterkunft klaute ihm jemand die Papiere und beging offenbar ständig Verkehrsdelikte, denn Ridha wurde kurz darauf der Fahrausweis entzogen, was für ihn als Chauffeur Jobverlust hieß.

Leben in Hinterhöfen

So fand er sich mit seiner Partnerin mit einem Mal ohne Dach und ohne Arbeit. Sie lebten in Absteigen, Hinterhöfen und auf der Straße; bis Ridha von einem neuen Experiment im Großraum Paris hörte: Die Regierung und zwei Sozialvereine bauten in der Vorortgemeinde Ivry-sur-Seine eine Siedlung aus 60 Mobilhomes auf, um SDFs aus Paris abzuziehen. Neben sozialen Rücksichten spielte wohl auch mit, dass in Paris immer mehr Obdachlose in Zelten von Hilfsorganisationen nächtigen; den Behörden ist das seit langem ein Dorn im Auge.

Die ersten SDFs, die in Ivry einzogen, ein Paar namens Gilles (38) und Marie (50), hatten vier Jahre lang unter einer Brücke der Pariser Ringautobahn gelebt; als Erstes lobten sie die frische Luft von Ivry. Ridha und seine Freundin kamen kurz darauf auf dem Terrain zwischen Eisenbahn und Fußballfeld an. "Und dank der stabilen Wohnsituation fand ich auch rasch wieder eine Anstellung als Magazineur. Meine Freundin jobbt als gelegentliche Verkäuferin."

In der offenen Eingangstür stehend, erzählt er gerade, dass er wie alle hier nur neun Monate bleiben dürfe und sich mittelfristig selber eine Wohnung suchen müsse, als ihn ein Jugendlicher von weitem grüßt: "Hey Ridha, ich habe einen Job gefunden. Am Montag fange ich an!" Adrien (26) wohnt nebenan mit seiner Mutter. Die beide waren aus ihrer Wohnung geworfen worden, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Dabei hatte Adrien seit seinem 16. Altersjahr Nachtschicht auf dem Pariser Fleischmarkt gemacht, bevor er auf die Straße gestellt wurde.

Schnell weg

Nun schläft er im Abstellraum des Wohnwagens und will so schnell wie möglich weg von hier. "Ich will meine Wohnung selber zahlen können und kein Sozialfall werden wie die anderen hier", meint er mit vielsagendem Blick auf die Bungalows rundum, von wo man Rufe und Geschimpfe hört. "Dabei ist es viel besser als am Anfang; jetzt grüßen sich die Bewohner wenigstens." Nicht aber die junge Frau, die mit gespenstisch leerem Blick aus dem Wohnwagen daneben tritt. "Die lebte zehn Jahre lang auf der Straße und brauchte zuerst einmal einen Arzt", meint Adrien.

Doch hier gibt es nur Sozialarbeiter wie den Projektleiter Jacques Deroo, der früher selbst Obdachloser war. Wie er sagt, bietet das Dorf keine umfassende Hilfe, nur das Wesentliche, nämlich ein Dach über dem Kopf: "Das vermittelt ein Gefühl der Sicherheit; und konkret eine Wohnadresse für die Jobsuche." Die ersten Erfahrungen seien vielversprechend. Die Regierung ist jedenfalls bereit, weitere "Clochard-Dörfer" um Paris zu bauen. (Stefan Brändle aus Ivry-sur-Seine/DER STANDARD, Printausgabe, 22./23. Dezember 2007)